News aus dem Kanton St. Gallen

Darf die Kirche politisieren?

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25.02.2016
Der Theologe Pierre Bühler findet, die Kirchen sollten sich politisch engagieren. Er sieht das als Teil ihres Auftrages, die Gesellschaft aus der Perspektive des Gottesreiches zu betrachten. Auch wenn dies manchmal zum Konflikt führt.

Herr Bühler, im Vorfeld der Abstimmung über die Durchsetzungsinitiative haben der SEK und die Kantonalkirchen die Vorlage abgelehnt. Sogleich wurde kritisiert, die Kirche dürfe sich nicht in die Politik einmischen.
Die Kirche kann gar nicht anders, als sich auch politisch zu engagieren. Politisches Handeln gehört zum menschlichen Leben. Wenn die Kirche etwas zum heutigen Menschen zu sagen hat, dann betrifft dies auch die Politik. Doch gibt es Grenzen: Die Kirche als Institution darf keine Parteipolitik betreiben und beispielsweise die SVP oder die SP unterstützen. Jemand, der Mitglied einer linken oder rechten Partei ist, ist dadurch nicht schon ein schlechter Christ. Ein Christ oder eine Christin muss seine politische Einstellung selbst verantworten. Wenn aber eine Vorlage die Menschenrechte verletzt, dann muss die Kirche klar Stellung beziehen, wie etwa bei der Durchsetzungsinitiative. Ihr Auftrag verpflichtet die Kirche dann dazu, nicht zu schweigen.

Dann halten Sie nichts von der Forderung, die Kirchen sollten, statt zu politisieren, sich auf die Seelsorge konzentrieren?
Seelsorge und politisches Engagement lassen sich nicht so einfach trennen. Der Hauptauftrag der Kirche besteht in der Verkündigung des Evangeliums in vielen Formen, auch seelsorgerlich. In gewissen Situationen hat dies politische Folgen. Ritzt die SVP wieder einmal die Grenze zur Menschenverachtung, dann muss die Kirche dies klar benennen, selbst wenn es unter ihren Mitgliedern auch Anhänger der SVP gibt.

Was halten Sie von dem Vorwurf, die Kirche sei links? Sind die Kirchen eher links oder rechts?
In ihrer Geschichte stellte sich die Kirche oft auf die Seite der Machthaber. Entsprechend konservativ trat sie auf und unterstützte oft blind die Obrigkeit. Daneben findet sich in der Kirchengeschichte jedoch eine Linie, die der Berner Neutestamentler Ulrich Luz einmal als Kontrastgesellschaft bezeichnete: Die Kirche hat die Verpflichtung zu zeigen, was anders sein könnte. Persönlichkeiten, die dies taten, gibt es in der Kirchengeschichte etliche: Franz von Assisi, Leonhard Ragaz, Dietrich Bonhoeffer, Martin Luther King und in jüngster Zeit die Befreiungstheologen in Südamerika. Doch übers Ganze gesehen, ist die Kirche eher konservativ. Auch heute fordern die Kirchenbehörden, man müsse bei der Asylpolitik den Behörden vertrauen und mit ihnen zusammenarbeiten, so etwa als der Kirchenbund die Ausschaffungsflüge der abgewiesenen Asylbewerber begleitete. Ein äusserst heikles und unglückliches Unterfangen.

War dies nicht immer so?
Nein, in den 80er- und 90er-Jahren erklärten sich die Kirchenbehörden noch «auf der Seite der Flüchtlinge». Damals war Heinrich Rusterholz Präsident des Kirchenbundes. Es gab – und es gibt – in der Kirche immer wieder progressive Stimmen.

Wie wichtig ist es, dass solche kirchliche Stimmen ihr Wächteramt gegenüber Gesellschaft und Politik wahrnehmen?
Es gehört zum Auftrag der Kirche und ihrer Mitglieder, die Gesellschaft kritisch zu begleiten. Der Staat braucht eine Instanz, die als Wächter der Gerechtigkeit und Solidarität auftritt. Mit der Einschränkung, dass die Kirche nicht auf überhebliche Weise moralisieren und verurteilen sollte.

Versteht dies die Bevölkerung?
Ich glaube, die Mehrheit erwartet, dass die Kirche für Solidarität einsteht. Dies sollte ihr auch nicht allzu schwer fallen, sie verfügt ja über eine jahrhundertealte Tradition der Solidaritätskultur.

Die Migration bietet der Kirche die Chance zu zeigen, was christliche Solidarität ist.
Ja, dem stimme ich zu. Leider sind es wenige, die Migration als Chance und nicht als Bedrohung betrachten ...

Wohl deshalb befürchten Kirchenleitungen, dass Mitglieder austreten, wenn man solidarisch für Flüchtlinge oder Randständige eintritt.
Das Hauptargument lautet: Die Leute treten aus, wenn wir klar Stellung beziehen. Die Ängstlichkeit macht vorsichtig und zurückhaltend. Ich bin aber überzeugt, die Kirche könnte in anderen Kreisen auch wieder Mitglieder gewinnen, wenn sie sich solidarischer zeigte und ein klares Profil hätte.

In den letzten Jahren haben solche Befürchtungen in der reformierten Kirche zugenommen.
Ja. Je stärker eine Kirche zu einer Minderheitskirche in der Gesellschaft wird, um so defensiver agiert sie, um nicht noch mehr Mitglieder zu verlieren. Ich kann die Bedenken der Kirchenbehörden verstehen. Doch die Furcht blockiert, macht unfrei für das Evangelium und für neue Perspektiven. Zuletzt stehen nicht mehr die Solidarität und die befreiende christliche Botschaft im Zentrum, sondern die Angst um den Verlust der Institution.

Vor kurzem verabschiedeten reformierte und katholische Theologen die Migrationscharta. Sie haben diese Bewegung unterstützt. Was will dieses Manifest?
Die Migrationscharta ruft in der laufenden Debatte zu einem Perspektivenwechsel auf. Die Politik sieht in der Migration und den Flüchtlingen eine Gefahr, die es abzuwehren, zu begrenzen und einzudämmen gilt. Die Charta fordert, die Migration unter dem rechtlichen und ethischen Aspekt zu betrachten. Konkret heisst dies: Es kommen Menschen, die suchen nach einem menschenwürdigen Leben und die haben Rechte auf Schutz und auf eine würdige Existenz. Und die einzige Frage ist provokativ: Wie werden wir dem gerecht?

Laufen Sie nicht Gefahr, als naiver Gutmensch abgetan zu werden?
Diese Gefahr besteht immer, und man darf sie gelassen hinnehmen. Lieber ein naiver Gutmensch als ein «zynischer Bösmensch» ...

In ihren sozialkritischen Statements kann die katholische Kirche auf die Befreiungstheologie zurückgreifen. Braucht die reformierte Kirche einen solchen theologischen Ansatz?
Die Befreiungstheologie ist ökumenisch und kann auch den Reformierten dienen. Aber wir Reformierten kennen einen solchen Ansatz schon längst. Wir müssten uns nur stärker an die Tradition des religiösen Sozialismus erinnern, wie ihn der Zürcher Theologe Leonhard Ragaz begründete. Gerade er hat darauf hingewiesen, dass eine der schlimmsten Ursachen der weltweiten Probleme in der immer tiefer werdenden Kluft zwischen Armen und Reichen besteht. Wenn wirklich 62 Personen, wie eine Studie letzthin zeigte, auf dem Erdball so viel wie der Rest der Bevölkerung besitzen, dann ist dies ein reiner Skandal. Und in der Schweiz sind es ähnliche Zahlen. Gegen diese Ungerechtigkeit müsste gekämpft werden, anstatt Asylgesetze stets zu verschärfen.

Doch die Leute akzeptieren solche soziale Unterschiede als Gegebenheit.
Ich habe letzthin eine humoristische Zeichnung mit zwei Gesichtern gesehen: Unter dem lächelnden Gesicht stand «62 Superreiche besitzen die Hälfte des Weltvermögens». Unter dem Gesicht, das sich vor Wut verkrampft, stand: «Ein Asylbewerber besitzt ein iPhone.»

Zum Schluss: War Jesus links?
Ich besitze eine schöne Karikatur eines spanischen Zeichners. Da fragt Gott einen Engel: «Warum kommt mir mit einem linken Sohn immer nur so eine rechte Kirche heraus?» Der Engel antwortet: «Un misterio?» (Auf Deutsch: «Ein Geheimnis?») Doch ernsthaft: Man kann die Kategorien links und rechts nicht auf Jesus anwenden. Diese gab es so vor 2000 Jahren nicht. Es steht jedoch fest, dass der Nazarener soziale Barrieren eingerissen und Ausgeschlossene wie Kranke, Dirnen und Zöllner in die Gesellschaft zurückgeholt hat. Sein Ziel war ihre gesellschaftliche Integration im Namen der anbrechenden Gottesherrschaft. Diese Vision der Zukunft verändert das Zusammenleben in der Gegenwart. Von daher war Jesus nicht konservativ, sondern reformierend.

Interview: Tilmann Zuber / Kirchenbote / 25. Februar 2016

Dieser Artikel stammt aus der Online-Kooperation von «reformiert.», «Interkantonaler Kirchenbote» und «ref.ch».

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