Ohne Scheitern gibt es keinen Fortschritt
«Jetzt macht euch doch mal locker!»
Auch Bergsteiger wissen was vom Scheitern. Wie oft mussten sie abbrechen, bis sie ihre Route fanden. Reinhold Messner hat ganze Bücher darüber geschrieben. Und Sportler? Format fanden die meisten erst in der Niederlage. Verlieren können hat etwas mit Grösse zu tun. Doch die Menschheit mag das Scheitern trotzdem nicht. Sie hasst es. Ganze TV-Formate leben von der schaudernden Lust, anderen dabei zuzusehen. Und die Freunde von Super-Nanny, Restauranttester und Schuldenberater heben mahnend den Zeigefinger. So bitte nicht! Sonst scheiterst du! Und «Scheitern» ist die Gotteslästerung der Neuzeit.
Bedrohung für den Selbstwert
Dabei lebt unsere Gesellschaft vom Scheitern. Von den hundert grössten Konzernen des Jahres 1912 war 80 Jahre später kein einziger mehr unter den Top 100. Von 100 Start-ups scheitern binnen drei Jahren über 80. Und: Was momentan als Erfolg gilt, kann morgen schon fürs Scheitern stehen. Versunkene Imperien beweisen es: Kodak, Sowjetunion, Swissair. Scheitern ist also normal, so sicher wie der Wechsel von Tag und Nacht. Warum also, um alles in der Welt, gilt es trotzdem als Katastrophe? «Es stellt eine Bedrohung des Selbstwertes dar», erklärt der Hamburger Fehlerforscher Olaf Morgenroth. Denn je stärker die persönliche Leistung zum Massstab der sozialen Stellung werde, umso gravierender werde «Scheitern» empfunden, heisst es. «Ob sich Menschen als gescheitert empfinden, hängt von der Gesellschaft ab, in der sie
leben, und von ihrem Selbstbild.»
Schlechte und gute Fehlerkultur
Tatsächlich reagiert man in Thailand anders auf Fehler als in Zürich. Die Toleranz ist dort viel grösser als hier. Das hat der Wirtschaftspsychologe Michael Frese festgestellt. Die schlechteste Fehlerkultur gäbe es in Deutschland, der Deutschschweiz und Singapur. Am anderen Ende fänden sich Thailand und Indien. In der Mitte lägen die Westschweiz und Österreich. «Der Mittelweg ist der beste», sagt Frese. Denn wenn Fehler nicht als Problem wahrgenommen würden, könne man sie auch nicht angehen. Würden sie hingegen zu schnell bestraft, entstünde kein Lerneffekt, weil die Fehlbaren stigmatisiert würden. Manch überhastete Notfallsitzung mit Blossstellung der Fehlbaren scheint das zu bestätigen. Kein Wunder, kratzt «Scheitern» am Selbstwert.
Die liebevolle Selbsteinschätzung
Dabei gäbe es eine einfache Strategie. Die liebevolle Selbsteinschätzung: «Ich habe versagt, aber ich bin kein Versager.» Fehler zugeben, doch seinen Selbstwert nicht ans Richtigmachen knüpfen, das wäre die Kunst. Dazu braucht es manchmal professionelle Hilfe. Verhaltenstherapeuten empfehlen deshalb, zu lernen, wie man Selbstempfinden und Leistung entkoppelt. Noch besser wäre es, bereits früh Versuch und Irrtum als normal zu finden. «Man sollte bei Kindern Fehler nicht sofort ausmerzen, sondern zulassen, dass es normal ist, wenn mal was schief geht», erklärt Morgenroth. So kämen sie gar nicht auf die Idee, sich wegen Misserfolg abzuwerten. Fehlerfreundlichkeit wäre also ein Baustein des inneren Immunsystems. Vergebung nannte man das wohl einmal.
«Verlieren können hat etwas mit Grösse zu tun.»
Natürlich fühlt sich «Scheitern» trotzdem blöd an. Aber es bewegt eben auch dazu, Neues an sich zu entdecken, frische Erfahrungen zuzulassen, grosszügiger zu werden. Kurz, sich zu entwickeln. Evolutionär! Wobei auch allzu Erfolgreiche gewappnet sein sollten. Denn Erfolg steigt bevorzugt dort zu Kopf, wo der nötige Hohlraum vorhanden ist.
Text: Reinhold Meier, Wangs | Bild: Josef Felix Müller – Kirchenbote SG, Januar 2017