News aus dem Kanton St. Gallen

«Es ist besser, Werte zu leben als für Werte zu kämpfen»

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24.05.2018
Familie, Gemeinschaft, Glaube und Identität: Welche Werte muss man schützen? Wofür sollte man kämpfen? Ein Podium in Muttenz ging den Fragen auf den Grund.

Das Podium des ökumenischen Forums für Ethik und Gesellschaft Muttenz über «hiesige Werte» im Kirchgemeindehaus Feldreben war als Streitgespräch angekündigt. Die Teilnehmenden vertraten die grossen Religionen: Niklaus Peter ist reformierter Pfarrer am Fraumünster in Zürich. Saida Keller-Messahli tritt als Präsidentin des «Forums für einen fortschrittlichen Islam» dem Fundamentalismus entgegen. Edouard Selig ist seit Jahrzehnten eine Stütze der Israelitischen Gemeinde Basel, und der 16-jährige Lehrling Valentin Fürstenberger gehört zur jungen Generation der Christen.

Wer erwartete, dass die Gäste, moderiert von Judith Wipfler, Fachredaktorin Religion bei Radio SRF, über in Stein gemeisselte Werte oder Benimmregeln wie den «Handschlag» stritten, wurde enttäuscht. Alle brachten Werte vielmehr mit Haltungen und Lebensweisen in Verbindung. Zum Beispiel betonten sie die Bedeutung der Familie und Gemeinschaft.

Familie als ruhiger Hafen
Für Edouard Selig bedeutet seine Grossfamilie mit zehn Kindern und mehreren Enkeln einen «Hafen in der unruhigen Welt». Zur Familie gehören für Selig auch Freunde oder Menschen, die niemanden haben. Damit sie nicht allein sein müssen, organisiert die Israelitische Gemeinde Basel einen Gästedienst und Krankenbesuche.

Niklaus Peter sieht dies ähnlich. Nicht Familie an sich stelle einen Wert dar, weil Werte Gemeinschaften über die Familie hinaus schützten. Dies entspreche dem christlichen Verständnis, in dem die Gemeinde Mutter und Vater ist. «Gute Werte ermöglichen Leben, das macht die Familie leider nicht immer», sagte Peter. Valentin Fürstenberger schätzt die gegenseitige Unterstützung und die Verbindlichkeit, welche die Familienmitglieder vereint, etwa wenn man zusammen Weihnachten feiert.

Saida Keller-Messahli, als fünftes von acht Geschwistern aufgewachsen, wies auf die Schattenseiten hin, wenn man die Familie absolut setze. Familie könne auch ein «Terrorregime» sein, etwa wenn die Kinder oder die Frau dauernder Kontrolle ausgesetzt seien.

Saida Keller-Messahli betonte, dass gerade die Islamisten Jugendliche mit dem Versprechen von Gemeinschaft rekrutierten und damit eine Lücke füllen in einer Gesellschaft, in der die Vereinzelung und Einsamkeit zunehme. Dasselbe Muster beobachtet Keller-Messahli beim Erfolg der Muslimbruderschaft. Diese sorge für soziale Gerechtigkeit, die im Islam als wichtiger Wert gelte. In vielen muslimischen Ländern sei es damit aber schlecht bestellt. Dies treibe die Menschen in die Arme radikaler Gruppierungen.

Glaubensbekenntnis stärken
«Unsere Schwäche bietet Extremisten eine Plattform», folgerte Niklaus Peter. «Werte sind, was die Gesellschaft zusammenhält.» Doch die gelebte Ethik im Alltag nehme ab. «Wie können wir eine religiöse Ethik und gleichzeitig Offenheit und Freiheit weitergeben?», fragte der Pfarrer. 

Die grossen Religionen böten sich als «Tauwetter» im Klima des Egoismus geradezu an. Darum sollten die Religionsgemeinschaften ihr eigenes Glaubensbekenntnis stärken. Peter spricht lieber vom Glaubensbekenntnis als von Werten. Das Wort «Wert» behage ihm nicht, weil es von «bewerten» komme und aus der Nationalökonomie stamme. Für Edouard Selig ist das Gebet zentral. Wenn der Mensch den Glauben verliere, halte der Materialismus Einzug. Der Glaube gebe Kraft.

Kein Kulturkampf
Ob man um Werte kämpfen müsse, fragte Judith Wipfler. Saida Keller-Messahli findet, dass man im Islam um das Selbstbestimmungsrecht der Frauen kämpfen müsste. Kämpfen heisst für sie: nicht schweigen und aufklären. Niklaus Peter meint, es sei besser, Werte zu leben als für Werte zu kämpfen. Letzteres berge die Gefahr einer Aufklärungsdiktatur in einer Gesinnungsgesellschaft. Es sei die Aufgabe aller Bürger, den Rechtsstaat zu schützen, aber nicht, indem man polarisiere oder einen Kulturkampf heraufbeschwöre. 

Edouard Selig plädierte für Toleranz. Ob liberal oder orthodox – jeder solle nach seiner Façon selig werden. Das Nichtverständnis für die jüdische Minderheit in Europa bereitet ihm Sorge. «Die Juden haben Angst, in der Schweiz keine Zukunft zu haben.» Dagegen kämpft er, indem er sich im Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund politisch einbringt. Saida Keller-Messahli forderte eine solidarische Gesellschaft.

Gemeinschaftsgefühl, Solidarität und das Zwischenmenschliche sind Valentin Fürstenberger wichtig. Er versucht dies im Alltag zu leben, zum Beispiel in der Migros an der Kasse. Er benutze absichtlich nicht den Scanner, um den Angestellten zu zeigen, dass er ihre Arbeit schätzt. Dazu gehöre auch, dass man sich grüsst.

Karin Müller, Kirchenbote, Mai 2018

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