News aus dem Kanton St. Gallen

«Der letzte Nagel im Sarg»

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17.10.2019
Der Einmarsch der Türken in Nordsyrien bedroht auch die Christen in der Region. Viele seien schon geflüchtet, sagt John Eibner, Geschäftsführer von Christian Solidarity International.

John Eibner, wie sehr gefährdet der Einmarsch der Türkei die Minderheit der Christen in Rojava und den kurdischen Gebieten?
Die christliche Minderheit im Nordosten Syriens, insbesondere in der Provinz al-Hasaka, ist durch die türkische Invasion existentiell bedroht. Dies könnte sich als der «letzte Nagel im Sarg» der historischen christlichen Kirchen erweisen.

Sie sprechen vom «letzten Nagel». Besteht die Bedrohung in dieser Region schon seit längerem?
Ja, die Existenz christlicher Gemeinschaften in Syrien ist generell gefährdet, seit die USA und ihre Partner in Europa und der arabischen Welt zum Zeitpunkt des Aufstands im Jahr 2011 ein Programm zum Regimewechsel gestartet haben. Im Nordosten mussten die Christen und ihre Nachbarn mit Angriffen einer Vielzahl feindseliger islamistisch dominierter Streitkräfte rechnen. Zuerst kam die von den USA unterstützte «Free Syrian Army», dann al-Qaida in Form der al-Nusra-Front und zuletzt der islamische Staat. Inzwischen sind die Christen dem Druck des kurdischen Militärs ausgesetzt. Dies geschieht in Form von Erpressung von Geschäftsleuten und Bemühungen um eine «Kurdifizierung» der multikulturellen Gesellschaft.

Sie sind ja immer wieder vor Ort. Was sind Ihre Eindrücke?
In den letzten Jahren ist die christliche Bevölkerung im Nordosten stark zurückgegangen. Es sind wahrscheinlich weniger als 50’000 übrig. Wenn die türkische Invasion eine weitere Welle der Gewalt auslöst – und es hat ganz den Anschein –, werden wahrscheinlich alle Einheimischen fliehen, ausser jene, die zu alt oder krank sind. Erdogans Drohung, das Gebiet mit sunnitischen arabischen Flüchtlingen aus der Türkei zu bevölkern, weckt bei den lokalen Christen kein Vertrauen.

Warum?
Die meisten ihrer Vorfahren flohen vor gut hundert Jahren nach Syrien. Für sie war dies ein Zufluchtsort vor dem Völkermord an den Armeniern, Syrisch-Orthodoxen und Assyrern in der Türkei. Die Aussicht, unter der autoritären Herrschaft der politischen Erben der Osmanen zu leben, ist für die meisten Christen der Region nicht attraktiv. Natürlich ist nicht nur die christliche Gemeinschaft bedroht. Auch andere Minderheiten wie die Jesiden stehen vor dem Aussterben.

Die türkische Invasion betrifft die kurdischen Gebiete und die Region Rojava, in der es erste demokratische Strukturen gibt, die Minderheiten und Frauen berücksichtigt.
Im kurdisch-türkischen Konflikt geht es im Grunde nicht um Demokratie oder Frauenrechte. Es geht um konkurrierende Ultranationalismen. Sicherlich werden auch viele Kurden fliehen. Sie fürchten brutale türkische Vergeltungsmassnahmen wegen ihrer angeblichen Zusammenarbeit mit der kurdischen nationalen Bewegung Öcalans. Während meiner Reisen in die Gegend sah ich bei allen kurdischen Kontrollpunkten riesige Poster des kurdischen nationalistischen Guerillaführers Abdullah Öcalan.
Die Türkei steht heute im Mittelpunkt der medialen Aufmerksamkeit. Das ist nachvollziehbar. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass die Türkei nur eine der Mächte ist, die wesentlich zu den Verschlechterungen im syrischen Staat beigetragen hat. Heute ist es in Syrien nicht mehr möglich, einen Grossteil der Bevölkerung, einschließlich der Christen, zu schützen und den sozio-religiösen Pluralismus aufrechtzuerhalten. Diese Politik der Destabilisierung hat einer Horde von Dämonen die Fluttore geöffnet. Die türkische Armee und die verbündeten islamistischen Milizen sind nur eine von vielen Parteien, die in das Land eingedrungen sind.

Bedroht sind die aramäischen Christen in Syrien. Im Westen sind diese Kirchen weitgehend unbekannt.
Das Christentum in Syrien reicht bis in die apostolische Zeit zurück. Die Bekehrung des Apostels Paulus und die ersten Erfahrungen im Glauben fanden in Damaskus statt. Syrien, einschließlich des Nordostens, ist voll von alten christlichen Relikten und Schätzen. Wenn der Exodus der Christen anhält, wird Syrien eher wie die Türkei nach dem Völkermord an den Armeniern aussehen. Es gibt zwar grossartige Kirchen und Klöster, aber wenige Gläubige. Im Nordosten befinden sich die meisten der wenigen noch ansässigen Christen, syrisch-orthodox oder assyrisch. Ihre Muttersprache ist ein Dialekt des Aramäischen. Es gibt nur wenige kurdische und arabische Muslime, die zum christlichen Glauben übergetreten sind.

Was erwartet CSI von der Schweiz und der Politik im Westen?
Die meisten der Vorschläge, die heutzutage geäussert werden, fordern eine Art Bestrafung der Türkei. Damit trifft man nicht den Kern des Problems. Dieser ist die Destabilisierung des syrischen Staates. Die Politik des Regimewechsels wurde im Sommer 2011 in Washington unter dem Motto «Übergang zur Demokratie» gestartet. Bevor diese Politik der Destabilisierung umgesetzt wurde, war Syrien eine Diktatur, aber kein Spielplatz für grausame ausländische nationale Armeen und Terrorgruppen. Die Schweiz und die Westmächte müssen ihre Kraft auf die Stärkung der Institutionen des syrischen Staates richten.
Einer der wichtigsten Schritte, die die Schweiz und ihre westlichen Partner unternehmen müssen, ist die Aussetzung der verhängten Sanktionen für den breiten Wirtschaftssektor. Bundesrat Schneider-Amman räumte vor seinem Rücktritt ein, dass die Sanktionen «negative Folgen» für die syrische Zivilbevölkerung haben. Die Genfer Konventionen verbieten jedoch die kollektive Bestrafung von Zivilisten für die Missetaten ihrer Herrscher. Eine Harmonisierung der westlichen Politik im Geist der Genfer Konventionen wäre ein guter erster Schritt. Die Schweiz als neutrales Land sollte auch ihre Botschaft in Damaskus wieder öffnen.

Die Wiederherstellung der Herrschaft von Diktator Baschar Al-Assad und seinem berüchtigten Geheimdienst kann aber doch nicht die Lösung sein?
Es ist zu hoffen, dass die derzeitigen Fortschritte bei den von den Vereinten Nationen geförderten Verfassungsgesprächen letztendlich zu einer starken, integrativen Regierungsgewalt führen. Sie beruhen auf einem grösseren politischen Pluralismus und achten Rechtsstaatlichkeit. Ein solcher Prozess muss die Eliminierung islamistischer und anderer antidemokratischer Rebellen sowie die Entfernung von Armeen, Spezialeinheiten und Geheimdiensten sowie ihrer ausländischen Geldgeber in der internationalen Gemeinschaft zum Ziel haben. Die syrische Bevölkerung wäre weitaus besser dran als heute, wenn man die Uhr auf Anfang 2011 zurückdrehen könnte. Zu Zeiten, in denen das Land, seine Infrastruktur und Wirtschaft intakt waren. Als ein breiter sozio-religiöser Pluralismus herrschte; als der Staat in der Lage war, respektable Bildungs- und Gesundheitsdienste zu erbringen. Als Kinder zur Schule gehen und Eltern ohne Angst arbeiten konnten. Als der Staat seine Grenzen verteidigen konnte und als das Land für über eine Million Flüchtlinge ein sicherer Hafen vor sektiererischer Gewalt im benachbarten Irak war.

Sollte man von Europa und der Schweiz aus nicht besser die Zivilgesellschaft stärken statt auf diktatorische Machthaber zu setzen?
In der Tat sollten die Schweiz, Europa und die USA versuchen, mit aller Kraft die Zivilgesellschaft zu stärken. Es ist ein bedauerliches Zeichen der Zeit, dass wir davon in der Praxis nicht mehr viel sehen. Allzu oft verbünden sich westliche Staaten mit brutalen Diktaturen wie Saudi-Arabien. Ein Land, das nicht nur alle politischen Oppositionen zerschlägt, sondern auch den sozial-religiösen Pluralismus leugnet. Im Falle Syriens verbünden sie sich manchmal mit brutalen antidemokratischen, ultranationalistischen oder religiös fanatischen Kräften, um ein Regime aus geopolitischen Gründen zu stürzen. Die Unterstützung der Zivilgesellschaft bedeutet, in Solidarität mit sozialen Kräften zu stehen, die sich für den sozialen und politischen Pluralismus für alle einsetzen.

Interview: Tilmann Zuber, kirchenbote-online, 17. Oktober 2019

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