News aus dem Kanton St. Gallen

Vom Internet bis zur Wäscheleine

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21.04.2020
In der schwierigen Zeit rund um das Coronavirus gibt es neben Leid auch Ermutigendes: In vielen Thurgauer Kirchgemeinden entstehen kreative Initiativen, um auch ohne direkten Kontakt zu unterstützen und Gemeinschaft zu schaffen.

Der Telefondraht lief schon nach kurzer Zeit heiss: Rund 50 Familien und ältere Menschen nehmen die Einkaufshilfe der Evangelischen Kirchgemeinde Amriswil bereits regelmässig in Anspruch. «Obwohl sich auch zahlreiche freiwillige Einkaufshelfer bei uns gemeldet haben, war es zwischenzeitlich schwierig, nachzukommen», sagt Pfarrer Lukas Butscher. Besonders freue ihn, dass durch die Aktion viele neue Kontakte entstehen. Marco Tobler, Einkaufshelfer und freiwilliger Mitarbeiter in der Jugendarbeit, aus Oberaach berichtet: «In dieser speziellen Zeit ist es wichtig, dass ich helfen kann. Ich habe ja Zeit. Es war beeindruckend, wie mir ein älterer Herr sein Portemonnee anvertraute, um das nötige Geld selber rauszunehmen.» Doch der Mensch lebe nicht vom Brot allein, so Butscher: «Wir gestalten darüber hinaus sogenannte 12-Minuten-Andachten mit Wort und Musik. Sie sind kurz und knackig – und neben der Homepage auch per neu eingerichtetem Predigt-Telefon zu hören.»

Krise führt zusammen
«Ich finde es spannend, wie eine Krise teilweise wildfremde Menschen zusammenrücken lässt», sagt auch Remo Kleiner-Dunkel, Diakon in der Evangelischen Kirchgemeinde Berg. Diese Erfahrung machte er, als sich rund 70 freiwillige Helferinnen und Helfer meldeten, um notleidende Personen beim Einkaufen, mit Mahlzeiten und Fahrdiensten zu unterstützen. Kleiner-Dunkel weiter: «Nachdem der erste Gottesdienst zu Beginn der Corona-Krise ausgefallen war, ermöglichten unsere Techniker für die nachfolgenden Gottesdienste einen Livestream, der ab dem zweiten Mal bereits um ein einfaches Kinderprogramm ergänzt wurde. Jugendgruppenanlässe finden über die Zoom-App statt – Worship, Input und Challenge inklusive. Ich finde es spannend, wie eine Krise – sich teilweise wildfremde –  Menschen zusammenrücken lässt, wenn auch vorwiegend digital und wenn vor allem die allgemeine Not erfinderisch und kreativ werden lässt.» 

Gottesdienst hängt an der Leine
In der Evangelischen Kirchgemeinde Wigoltingen hat Pfarrer Lars Heynen den «Gottesdienst an der Wäscheleine» lanciert: Die Gottesdienstinhalte sind in einem Couvert an einer Leine bei der Kirche befestigt und können von Interessierten mitgenommen werden. So könne sich die Gemeinde in dieser schwierigen Zeit gerade auch bei Menschen entfalten, die nicht so technikaffin sind. Heynen weiss viele kreative Menschen aus der Kirchgemeinde an seiner Seite, und auf der Gemeinde-Homepage werden vielfältige Tipps zum Umgang mit der Krise vermittelt. Heynen ist offen und erzählt auch von seiner Ungewissheit, indem er den Theologen Dietrich Bonhoeffer zitiert (aus dem Gedicht «Wer bin ich?»): «Oder gleicht, was in mir noch ist, dem geschlagenen Heer, das in Unordnung weicht vor dem schon gewonnenen Sieg?» Es sei vor allem bedrückend, keine Trauerfeiern mehr im gewohnten Rahmen feiern zu können: «Abschiede abseits vom engsten Familienkreis nicht mehr möglich machen zu können, ist eine Katastrophe, die angesichts der Unbestimmtheit der Dauer noch unerträglicher wird. Sterbende nicht begleiten zu können, ist schwer. Ich habe so einen Fall, und eine Dame aus der Gemeinde hat mich angerufen, um sich zu verabschieden.» Und doch hofft Heynen, dass auch Neues dabei herauskommt, das in Zukunft nützlich ist: «Aber der Preis ist hoch.»

Videos kommen gut an
Dass auch Seniorinnen und Senioren im Internet unterwegs sind, zeigt die Erfahrung von Uwe John. Der Pfarrer der Evangelischen Kirchgemeinde Münchwilen-Eschlikon stellt mit seinem Team jeweils donnerstags den «Impuls zur Woche» als Videobotschaft auf die Webseite, den YouTube-Kanal und die Facebook-Seite. Dabei habe ihn das Dankeskärtchen einer 92-jährigen Dame besonders gefreut, die sich das Video gleich mehrmals auf dem Computer angeschaut habe. John betont: «Solche Erfahrungen sind in der Krise ermutigend.» Zudem freut er sich, dass «die Ressortverantwortlichen Katechetik der Vorsteherschaft, mein Kollege David Lerch und unsere Katechetinnen ein Fernunterrichtskonzept für den Religionsunterricht nach den Frühlingsferien entwickelt haben». In Rekordgeschwindigkeit notabene: «Solche Erfahrungen sind in der Krise ermutigend.»

Obdach gewährt
Von einem «Kirchen-Mut-Macher» berichtet auch Pfarrer Ruedi Bertschi aus Romanshorn. Er erzählt von einem «Lichtblick aus der Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen Romanshorn» und berichtet von einem nicht ganz ordentlichen Mann aus Ungarn, der plötzlich vor der Tür steht und Obdach sucht: «Das Aufnehmen von armen Fremden ist Christenpflicht. Was aber bereits in guten Zeiten eine nicht zu unterschätzende Herausforderung darstellt, nimmt in einer Jahrhundertsituation nochmals viel krassere Züge an. Immerhin ist der Mann gefährdet und gefährdend zugleich! Da kam mir in den Sinn, dass vor zwei Jahren ein nicht weniger origineller Pilger aus dem fernen Libanon bei uns anklopfte und darauf bestand, die Nachtruhe in unserer kleinen Friedhofkapelle zu verbringen. Ich staunte damals, zögerte, wunderte mich und gab nach dem dritten Bekreuzigen nach.» Dieses Mal sei darum alles sehr schnell gegangen: «Mein guter Nachbar lieferte mir eine Reisematratze mitsamt Bettzeug. Meine Frau steuerte eine Steppdecke bei. Unser Mesmer schaltete umsichtig die Heizung ein. Und die Diakonieverantwortliche gab grünes Licht, dass wir den erkälteten, etwas unterkühlten von allerlei misslichen Lebensumständen gezeichneten Mann aus Ungarn einquartieren konnten.»

Lebensmittellieferung fordert stark
Mit randständigen Menschen hat Pfarrer Damian Brot oft zu tun. Er ist Seelsorger des Angebotes «Open Place» in Kreuzlingen. Open Place betreibt unter anderem eine Lebensmittelabgabe beziehungsweise -lieferung an bedürftige Mitmenschen: «Die Nachfrage ist hoch, und das Angebot wird sehr gerne angenommen. Der Aufwand ist aber auch sehr hoch. Die Verteilungsliste muss immer wieder überprüft und aktualisiert werden, und es braucht viel Einsatz, die Lebensmittel zu den Menschen zu bringen, auch zu jenen, die keinen festen Wohnsitz haben.» In der evangelischen Kirche in Kreuzlingen zündet Brot regelmässig Kerzen an für Menschen, die mit einem Gebetsanliegen zu ihm gekommen sind oder von denen er weiss, dass es ihnen nicht gut geht. «Dann mache ich ein personalisiertes Video, das ich der Person schicke, für die ich die Kerze angezündet und gebetet habe. Die Leute sind sehr dankbar dafür.» 

Bücher statt WC-Papier
Jmerio Pianari aus Kreuzlingen von der kantonalen Medienstelle Religionsunterricht hat eine spezielle Erfahrung gemacht: «Am ersten Tag, nachdem bekannt wurde, dass alle Bibliotheken geschlossen werden sollen, hatten wir einen riesigen Ansturm mit Reservationen. Es war wie mit dem Toilettenpapier. Nun werden das ausgebaute Onlineangebot und der Postversand bedeutend stärker genutzt.»

Abschied unfreiwillig vertagt
In einem anderen Sinne speziell verlaufen die letzten Einsätze eines Pfarrers in Arbon: Dort dauert die Verabschiedung von Hans Martin Enz ungewollt noch etwas an. Der geplante Abschiedsgottesdienst fiel aufgrund der Corona-Vorschriften aus. «Gott sei Dank funktionieren Telefon, Post und Mail. Damit haben mich die Arboner Kirchbürgerinnen und Kirchbürger reichlich bedient», sagt Enz. So könne er den Abschied trotzdem bewusst und persönlich vollziehen. Zudem freue er sich nun noch umso mehr auf die Teilnahme an der Kirchgemeindereise, die zwar allenfalls verschoben wird, aber auf jeden Fall noch stattfinden soll. Enz, der nicht nur Pfarrer sondern auch Buschauffeur ist, wird dann wie gewohnt den Reisecar steuern.

Mehr «Corona-Wissenswertes» aus der Thurgauer Kirchenlandschaft
Lesen Sie mehr ermutigende Berichte von kirchennahen Menschen im Umgang mit der Krise: Das sagen eine Ärztin und ein Paartherapeut, und Verantwortliche von Kirchgemeinden im Thurgau, die ihre langjährige Online-Erfahrung in der Corona-Krise nutzen können.


(Roman Salzmann / Cyrill Rüegger, 23. April 2020)

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