News aus dem Kanton St. Gallen

In gut vier Jahren 31‘000 Menschleben gerettet

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20.06.2020
Menschen ertrinken im Mittelmeer – bei Flüchtlingen scheint das Seerecht nur bedingt gültig. Wie SOS Méditerranée dagegen angeht.

Eva Ostendarps Motivation ist simpel: «Es kann nicht sein, dass wir Menschen gegen das Seerecht einfach in Not auf dem Mittelmeer allein lassen.» Sie ist Leiterin für die Deutschschweiz bei SOS Méditerranée. Diese europäische humanitäre Organisation für Seenotrettung arbeitet seit 2016 im zentralen Mittelmeer, in internationalen Gewässern vor der libyschen Küste.

«Das ist die tödlichste maritime Fluchtroute», sagt Ostendarp. Das sei vor allem so, weil für die Distanz von rund 450 Kilometer völlig ungeeignete Bootstypen verwendet würden – in den meisten Fällen Schlauchboote, manchmal solche aus Holz. Zudem würden viele bereits mit zu wenig Treibstoff und Nahrungsmitteln losfahren und seien überfüllt. «Die meisten Boote sind eigentlich bereits beim Ablegen in Seenot», hält Eva Ostendarp fest.

Viel Platz für Gerettete
SOS Méditerranée konnte nach eigenen Angaben seit 2016 etwa 31‘000 Menschenleben retten. Zurzeit ist das Schiff «Ocean Viking» unterwegs. An Bord sind 31 Personen Besatzung: Neun davon als Schiffspersonal, also Kapitän, Matrosen, Maschinenleute, der Rest sind Seenotretter und medizinisches Personal. Es sei ein gut eingespieltes Team von professionellen Leuten, die auch bei jeder Fahrt Rettungseinsätze trainierten, sagt Ostendarp.

Aufnehmen kann das Schiff hunderte Menschen. «Wie viele zu Rettende wir aufnehmen können, definieren wir nicht. Über 400 war die grösste Zahl mit der «Ocean Viking», die wir an einen sicheren Ort brachten», sagt die Aktivistin. Auf dem Schiff gebe es Zufluchtsräume in Containern, wo Männer sowie Frauen und Kinder getrennt unterkommen.

Zusammenarbeit immer schwieriger
Die «Ocean Viking» patrouilliert jeweils während bis zu drei Wochen in internationalen Gewässern vor der libyschen Küste und sucht das Wasser mit Radar und Feldstechern ab. Informiert wird die Besatzung aber oft über Seefahrtsbehörden, die Notrufe von der NGO Alarmphone erhalten.

Die Zusammenarbeit mit den Behörden laufe aber schlecht, hält Eva Ostendarp fest. «In den letzten Jahren gab es konstant eine mangelnde Koordination von libyscher Seite: keine oder verspätete Antworten, Weisungen, die Geretteten in einen libyschen Hafen zu bringen.» Das widerspreche aber geltendem Seerecht. Nach diesem sind Gerettete an einen sicheren Ort zu bringen, und Libyen gilt nicht als sicher. «Deshalb müssen wir jeweils bei den nächstgelegenen Alternativen anfragen, in Malta und Italien.» Gemäss Seerecht wäre es die Verantwortung der Küstenstaaten, Menschen in Seenot einen sicheren Ort zuzuweisen.

Auch die Schweiz ist gefordert
«Das grösste Problem ist aber, dass es keinen Verteilmechanismus gibt. Die ganze Seenotrettung im Mittelmeer ist unkoordiniert.» Eva Ostendarp sagt, dass es zwar eine sogenannte Koalition der Willigen gebe mit unter anderem Malta, Italien, Deutschland und Frankreich. Sie möchten die Verteilung organisieren. Aber: «Bisher gab es keine konkreten Massnahmen, es wird immer von Fall zu Fall entschieden – das ist für uns sehr schwierig.»

Hier sei auch die Schweiz gefragt, betont die hiesige Mitarbeiterin von SOS Méditerranée. «Von der Schweiz fordern wir, dass sie Solidarität zeigt und sich beteiligt. Als Mitglied des Schengenraums finanziert sie Frontex mit, die europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache. Und als Gründungsort des IKRK und mit einer starken humanitären Tradition sehen wir die Schweiz verpflichtet, sich konkret zu beteiligen bei einem Verteilmechanismus.»

Fragwürdige Unterstützung des Europäischen Rats
Statt einer Verbesserung hat sich die Zusammenarbeit mit den Seefahrtsbehörden in den letzten Jahren gemäss Eva Ostendarp aber verschlechtert. Zudem habe der Europäische Rat im Februar 2017 die Malta-Erklärung verabschiedet, die 200 Millionen Euro für die Finanzierung, Ausbildung und Ausrüstung der libyschen Küstenwache beisteuerte.  «Das widerspricht dem Seerecht, denn die libysche Küstenwache fängt Flüchtende ab und bringt sie nach Libyen zurück, wo sie oft in Internierungslagern landen. Allein 2020 waren das bisher über 4000 Menschen.»

In Ostendarps Augen wäre eine Besserung durchaus möglich. Während der Corona-Zeit habe man gesehen, dass vieles möglich und sehr viel Solidarität da ist. Das müsste auch den Flüchtenden auf See zugutekommen. Und sie hofft quasi auf weniger Arbeit: «Schön wäre, es würde uns nicht mehr brauchen – entweder weil die Staaten ihre Aufgabe in der Seenotrettung wieder übernehmen oder noch besser: weil es gar keine Flüchtende in Seenot mehr gibt.»

Marius Schären, reformiert.info

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