News aus dem Kanton St. Gallen

«Wir sind vom Traum der Inklusion weit weg»

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15.01.2021
Anita Kohler leitet das Gehörlosenpfarramt in der Nordwestschweiz. Sie erklärt, warum sich die Gehörlosen während der Corona-Pandemie noch stärker zurückziehen und Gebärdensprache mit Maske schwierig ist.

Frau Kohler, seit einem Jahr leben wir mit der Corona-Pandemie. Wie hat sich das auf das Leben in der Gehörlosengemeinde ausgewirkt?
Die Pandemie hat massive Auswirkungen auf die Gehörlosengemeinde. Die Gehörlosen sind im Kontakt mit der hörenden Welt darauf angewiesen, dass sie von den Lippen ablesen können. Mit Masken funktioniert das nicht. Es ist ein Fehlurteil der Hörenden, du denken, die können ja Gebärden, das reicht. Zu den Gebärden gehört die Mimik. Über die Augen geht viel, es reicht aber nicht. Fällt die Mimik weg, ist es für die Gehörlosen keine volle Kommunikation. Diese Art der Kommunikation braucht wahnsinnig viel Energie. So gab es immer Gemeindemitglieder, die zurückgezogener lebten, weil der Kontakt in die hörende Welt anstrengend ist. Diese Isolation hat sich jetzt noch verstärkt, entsprechend ist mein Seelsorgeaufwand gestiegen. Ich war nicht komplett unvorbereitet, aber das Ausmass hat mich schon erschreckt. Die Auswirkungen auf den Alltag der Gehörlosen sind enorm. Oft geht es um Kleinigkeiten, mit denen sie normalerweise keine Probleme haben. Ich musste jemanden in die Apotheke begleiten. Es war der Person nicht gelungen, dem Personal mit Maske hinter Plexiglas zu erklären, welches Medikament sie benötigt.

Wären durchsichtige Masken eine Alternative?
Ich hatte einige dieser Masken aus Deutschland, die aber nichts taugten. Die Kirchen legen Wert darauf, dass alle zertifizierte Masken verwenden. Die Zertifizierung wäre viel zu teuer gewesen. Ich versuche so oft wie möglich über Zoom, Skype, Messenger, FaceTime etc. zu kommunizieren. Doch viele ältere Gemeindemitglieder haben diese Technik nicht zur Verfügung oder beherrschen sie nicht. Darum kommt bei mir immer noch das Faxgerät zum Einsatz. In einem normalen Monat verschicke ich fünf bis zehn Faxnachrichten, im Frühling und seit November sind es gut vier- bis fünfmal so viele. Als wir keinen Zugang zu den Altersheimen hatten, schrieben wir Briefe und verschickten Mutbotschaften. Wir wollten den Leuten einmal im Monat eine Freude bereiten, etwa mit einer Bastelarbeit und einem Text, der zum Kirchenjahr passt. Während der Pandemie geht es noch mehr als sonst darum, den Leuten zu zeigen, dass wir für sie da sind.

Ist Ihnen das gelungen?
Ich bin mir bewusst, dass ich nicht alle erreichen kann und dass ich diejenigen, die eh schon zurückgezogener leben, verliere. Das ist seelsorgerlich und emotional schwer auszuhalten. Ich muss das akzeptieren. Aber ich kann mich nicht daran gewöhnen.

Gab es gar keine Präsenz-Veranstaltungen mehr?
Während des Lockdowns im März waren die Regeln einheitlich, Gottesdienste fanden keine statt. Dann wurde es etwas komplizierter, da ich für fünf Kantonalkirchen arbeite. Ich musste immer wieder nachlesen, welche Regeln in welchem Kanton gerade gelten. Es ist vieles ausgefallen, einzig die Gottesdienste hatten einigermassen Bestand. Sie mussten jedoch ohne Konsumation stattfinden.

Welche Erfahrungen haben Sie gemacht?
Die Gehörlosen haben die Kirche nicht im Dorf. In den Kantonen, die ich betreue, gibt es jeweils einen Standort für die Gehörlosengottesdienste. Die Leute kommen aus dem ganzen Kanton und auch von ausserhalb. Für sie steht das Zusammensein im Zentrum. In Baden finden etwa zehn Gottesdienste pro Jahr statt, nicht mehr. Der Chilekaffi danach ist also sehr wichtig und fehlt enorm.

Haben Sie es auch mit Online-Gottesdiensten versucht?
Wie die meisten Kirchgemeinden suchten auch wir möglichst schnell nach Alternativen, nahmen Gottesdienste auf, die ich in Gebärdensprache übersetzte. Auch an Weihnachten verschickten wir einen Youtube-Link. Darauf habe ich viele Reaktionen erhalten, auch von Leuten, die nichts mit der Gehörlosengemeinde zu tun haben. Aber für Gehörlose ist das keine echte Alternative, weil wie gesagt das Zusammensein wichtiger ist als die Andacht selbst.

Gab es eine Zusammenarbeit mit den Kirchgemeinden? Zum Beispiel gemeinsame Online-Gottesdienste mit Übersetzung in die Gebärdensprache?
Das ist nicht so einfach. Ich veranstalte jeweils eine Übung mit Pfarrkollegen, die einen Bibeltext in die Leichte Sprache übersetzen sollen. Die meisten sind damit überfordert. Die Leichte Sprache muss man lernen, sie hat eigene Regeln, eine eigene Grammatik und Syntax. Ich verwende sie in meinen Gottesdiensten so oft wie möglich, weil die Muttersprache vieler Besucher nicht Deutsch ist, sondern die Gebärdensprache. Unser Hochdeutsch ist für sie eine Fremdsprache. Zudem sind meine Gottesdienste sehr visuell und gegenständlich. Die Reformierten, die derart wortlastig sind, tun sich schwer damit. In Grenchen gestalten wir aber seit einiger Zeit einmal pro Jahr einen gemeinsamen Gottesdienst. Der Kollege dort hat mittlerweile das Gespür und Verständnis für die Bedürfnisse der Gehörlosen.

Wird in der Pandemie genug dafür getan, dass auch Gehörlose weiterhin am gesellschaftlichen Leben teilnehmen können?
Jein. Die ersten Pressekonferenzen des Bundesrats fanden ohne Dolmetscher statt. Mittlerweile klappt das und auf der BAG-Webseite existiert inzwischen auch eine Übersetzung in die leichte Sprache. Aber dieses Beispiel zeigt, dass wir vom Traum der selbstverständlichen Inklusion noch sehr weit weg sind. Gehörlose sind ansonsten nicht mehr ausgeschlossen als andere. Sie können genauso wenig ins Fitnessstudio, ins Kino, ins Theater. Es fehlen ihnen die Treffpunkte. Diese Funktion haben unter anderem auch die Beratungsstellen. Sie bieten normalerweise Open-House-Veranstaltungen oder Spielnachmittage an. Gehörlose bilden untereinander ein sehr stabiles, eigenes Netz. Dieses Netz hat Schaden genommen, weil der Kontakt fehlt. Skypen ist nicht das Gleiche wie in einer Beiz zusammen plaudern.

Die Pandemie beschäftigt uns weiterhin. Wie sehen Sie die Zukunft?
Ich konnte im letzten Jahr viel Neues ausprobieren und habe einige Strategien und kreative Lösungen an der Hand, doch die Gehörlosen sind wie wir alle coronamüde. Ich werde weiterhin bewusst den Einzelkontakt mit den Gemeindemitgliedern suchen. Unsere Gesellschaft hat bereits Schaden genommen und wird noch weiteren Schaden nehmen, nicht nur wirtschaftlich, auch emotional und seelisch. Die Gehörlosen sind ein Teil dieser Gesellschaft, keine Ausnahme. In dieser Zeit den Humor nicht zu verlieren, ist für mich etwas vom Wichtigsten.

Interview: Karin Müller, kirchenbote-online

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