News aus dem Kanton St. Gallen

«Wir müssen die Arbeit menschlich gestalten»

min
22.02.2021
Abends länger shoppen oder an mehr Sonntagen einkaufen? Die Liberalisierung der Ladenöffnungszeiten ist umstritten. Pfarrer Jean-Eric Bertholet erklärt, wieso er dagegen ist, und wieso weniger mehr ist.

Jean-Eric Bertholet, wegen Corona forderte die Zürcher Volkswirtschaftsdirektorin jüngst mehr Sonntagsverkäufe. In Zug kommt am 7. März  eine Gesetzesinitiative vors Volk, die die Ladenöffnungszeiten um eine Stunde verlängern will.  Die Berner Bevölkerung stimmt darüber ab, ob neu die Detailhandelsgeschäfte an vier Sonntagen pro Jahr statt wie bisher an zwei Sonntagen öffnen dürfen. Wie werden Sie abstimmen?
Ich werde ein Nein einwerfen. In meinen Augen wird hier die Freiheit des Marktes gegen die Freiheit der Arbeitnehmenden ausgespielt. Also müssen wir Verkäuferinnen und Verkäufer schützen. Die Gesetze zum Schutz der Arbeitnehmer sind das Ergebnis eines langen Kampfes ab dem 19. Jahrhundert. Mit der Industrialisierung entstanden schrittweise Gesetze, die Sonntags- und Nachtarbeit verboten. Wir dürfen diese nicht wieder hergeben. Mir ist klar, dass es bei der Abstimmung nur um eine kleine Veränderung geht. Aber damit gehen wir entschieden einen Schritt in die falsche Richtung.

Die Geschäfte erhoffen sich mehr Umsatz.
Das ist Quatsch. Mit den Sonntagsverkäufen wird kein einziger Rappen mehr ausgegeben. Es findet nur eine Verschiebung statt. Davon profitieren nur die grossen Läden, die genug Personal haben. Die Kleinen hingegen sind die Verlierer. Anstatt der Freiheit des Marktes, mit der die Wirtschaft argumentiert, will ich die Freiheit der Arbeitnehmenden betonen. Schliesslich geht es nur um die Erhöhung des Umsatzes einiger grossen Akteure.

Die Sonntagsallianz, ein Zusammenschluss verschiedener Kirchen, will den freien Sonntag nicht den Wirtschaftsinteressen opfern. Findet hier ein Prestigekampf um den heiligen Sonntag statt?
Die Befürworter der Sonntagsverkäufe versuchen die Kirchen lächerlich zu machen. Wenn ich aber am Sonntag in Paris Strassenkehrer unterwegs sehe, stimmt mich dies traurig. Nicht jede Arbeit ist am Sonntag nötig. Klar muss das Personal der Polizei, der Spitäler oder andere Pikettdienste auch am Sonntag arbeiten. Was nötig ist, soll sein. Aber was unnötig ist, darauf kann man verzichten.

Wenn in einer Familie beide Ehepartner 100 Prozent arbeiten, sind diese doch froh, in der Weihnachtszeit auch am Sonntag ihre Einkäufe zu erledigen.
Ich hoffe, dass die übrigen sechs Tage der Woche ihnen ausreichen. Wenn dies nicht der Fall ist, dürften diese Familien ihren Lebensstil und ihren Lebensrhythmus vielleicht doch hinterfragen. Ich sehe es ja in meiner eigenen Familie: Die jungen Familien sind unter Druck. Vor allem mit der Doppelbelastung, die leider primär immer noch die Frauen trifft. Ja, es ist nicht einfach, Familie und Arbeit unter einen Hut zu bringen. Aber ich frage mich halt, sind denn ein zweites Auto, Luxusferien, ein eigenes Haus so wichtig, dass man dafür soviel opfert?

Weniger ist also mehr?
Ja, weniger ist mehr. Schon unsere Umwelt schreit nach einem einfacheren Lebensstil. Es ist ja dieser überbordende Konsum, der unsere Welt kaputt macht. Es ist das Ergebnis unseres Leistungs- und Profitdenkens. Davon sollten wir uns befreien. Ist es nicht wichtiger, mehr Zeit füreinander zu haben als dem Konsum zu huldigen?

In der Bibel steht: «Sechs Tage sollst du arbeiten und alle deine Werke tun. Aber am siebenten Tage ist der Sabbat des Herrn, deines Gottes. Da sollst du keine Arbeit tun, auch nicht dein Sohn, deine Tochter, dein Knecht, deine Magd, dein Vieh, auch nicht dein Fremdling, der in deiner Stadt lebt.» Wie steht es um die biblischen Argumente des arbeitsfreien Sonntags?
Die Bibel lädt zum Nachdenken ein. Wenn das zweite Buch Mose am Sabbat sogar dem Esel keine Arbeit zumuten will, sollten wir dies auch den Verkäuferinnen oder Verkäufern nicht zumuten! Klar, wir können die Bibel nicht eins zu eins auf heute übertragen. Dennoch gilt es zu überlegen, wieviel unserer Zeit wir dem Konsum und wieviel doch gelegentlich der Besinnung widmen wollen.

Der Sonntag soll also der Besinnung dienen. Die Kirchenbänke sind aber am Sonntag kaum gefüllt.
Es geht mir nicht um einen Besinnungszwang. Das will ich sicher nicht. Aber ebenso wenig darf es einen Arbeitszwang geben! Mehr Sonntagsarbeit ist doch eindeutig eine Verschlechterung der Arbeitsbedingungen. Die von der Wirtschaft dauernd geforderte Flexibilisierung der Arbeitszeiten ist unmenschlich. Am Ende kommt doch die 24-Stunden-Gesellschaft. Klar, ich kann verstehen, dass man teure Maschinen und Produktionsanlagen so schnell wie möglich rentieren lassen muss, indem sie möglichst viele Stunden arbeiten. Aber die Menschen zahlen dafür einen zu hohen Preis. Es werden von ihnen sehr viele Opfer abverlangt, die kaum honoriert werden. Ich will nicht noch mehr Menschen der Sonntagsarbeit opfern!

Wieso ist der Sonntag als Unterbruch der Arbeitswoche so wichtig?
Jesus selbst hat gesagt, der Sabbat sei für den Menschen da, nicht der Mensch für den Sabbat. Vielleicht dürften wir es auch so übertragen: Der Mensch ist nicht für die Arbeit da. Die Arbeit aber für den Menschen. Und diese Arbeit muss menschlich gestaltet sein. Menschen sind keine Maschinen, die 24 Stunden ohne Unterbruch funktionieren. Wir brauchen Pausen. Nicht nur jeder individuell, sondern auch gemeinsam als Gesellschaft. Wenn die Arbeit immer flexibler wird, verlieren wir sie – beispielsweise auch am Sonntag. Es wäre ein grosser Verlust für unsere Gesellschaft.

Nicola Mohler, reformiert.info

Unsere Empfehlungen

Die Teuerung trifft die Ärmsten

Die Teuerung trifft die Ärmsten

Die Teuerung der vergangenen Monate trifft insbesondere die weniger gut Verdienenden. Hilfsorganisationen wie das «Tischlein Deck dich» in der Offenen Kirche Elisabethen in Basel verzeichnen eine so hohe Nachfrage, dass Grundnahrungsmittel fehlen. Nun springen eine Stiftung und eine Firma ein.
Ein Prozess mit Signalwirkung (1)

Ein Prozess mit Signalwirkung (1)

Die Anwältin Nina Burri ist Fachperson für Wirtschaft und Menschenrechte beim Hilfswerk der Evangelischen Kirchen der Schweiz. Sie verfolgt den Prozess, den bedrohte Fischer gegen Holcim anstreben.
Teuerung trifft die Ärmsten

Teuerung trifft die Ärmsten

Die Teuerung der vergangenen Monate trifft insbesondere die weniger gut Verdienenden. Hilfsorganisationen wie das «Tischlein Deck dich» in der Offenen Kirche Elisabethen in Basel verzeichnen eine so hohe Nachfrage, dass Grundnahrungsmittel fehlen. Nun springen eine Stiftung und eine Firma ein.
Ein Prozess mit Signalwirkung

Ein Prozess mit Signalwirkung

Die Anwältin Nina Burri ist Fachperson für Wirtschaft und Menschenrechte beim Hilfswerk der Evang.-ref. Kirchen Schweiz. Sie verfolgt den Prozess, den bedrohte Fischer gegen Holcim anstreben.