News aus dem Kanton St. Gallen

Sumaya Farhat-Naser: «Ich werde den Frieden nicht erleben.»

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13.11.2021
Die palästinensische Friedenspädagogin und Schriftstellerin Sumaya Farhat-Naser kommt auf Vortragsreihe in die Schweiz. Zu berichten hat sie wenig Gutes.

Diesen Frühling herrschte Krieg in Gaza. Wie geht es Ihnen knapp sechs Monate später?
Es ist schrecklich. Alle zwei, drei Jahre kommt es zum Krieg. Hunderte von Menschen werden getötet, Tausende verletzt. Und mit dem Wiederaufbau geht es kaum vorwärts, weil Israel die Einfuhr von Baumaterialien nach Gaza erschwert. Elektrizität gibt es nur während zwei, drei Stunden pro Tag. Darunter leiden natürlich besonders die Menschen, die in Krankenhäusern an Apparate angeschlossen sind.

Glauben Sie, dass die Situation mir der neuen Regierung besser wird?
Man soll nie die Hoffnung aufgeben. Aber im Moment schaut es nicht danach aus. Der von der vorherigen Regierung festgelegte Kurs wird weiterverfolgt. Noch mehr Landnahme, Siedlungsbau, Zerstörung von Feldern und Häusern. Täglich werden palästinensische Jugendliche getötet. Doch die USA und Europa schweigen. Auch weil der neue Premierminister Neftali Bennett sie um zwei Jahre Zeit gebeten hat, um die Regierungskoalition nicht zu gefährden. Für uns sind das zwei Jahre zu viel. Beim Waffenstillstand im Mai wurde versprochen, Provokationen wie jene, dass jüdische Siedler vor der Al-Aksa-Moschee demonstrieren und beten, künftig zu unterbinden. Doch auch die neue Regierung ist nicht eingeschritten, als es im September wieder dazu kam.

Inwiefern kann die Regierung scheitern?
Sie konnte erst nach vier Wahlen gebildet werden und vereinigt acht extrem unterschiedliche Parteien von rechts bis links. Das gemeinsame Ziel, dass Nethanayu weg muss, haben sie erreicht. Aber alle haben Angst, dass das Bündnis, das im Parlament nur über eine Stimme Mehrheit verfügt, wieder auseinanderfällt. Unter diesen Umständen wagt niemand etwas, versucht niemand, etwas zu unseren Gunsten zu verändern.

Aber für die palästinensischen Israelis scheint es Verbesserungen zu geben?
Bennett will einigen tausend palästinensischen Israelis Identitätskarten geben. Rund 45'000 haben keine, obwohl sie israelische Staatsbürger sind. Wir freuen uns über jede Identitätskarte, die vergeben wird. Aber eigentlich ist das ja ein Menschenrecht, für das man nicht kämpfen müssen sollte. Auch für 5000 der 65'000 ausweislosen Menschen in der Westbank wurden Papiere in Aussicht gestellt. Die Bedingung für die Verhandlungen zwischen der israelischen und der palästinensischen Regierung war der Ausschluss aller politischer Fragen. Bis jetzt haben gerade mal 54 Frauen in der Westbank eine Identitätskarte erhalten.

Sie setzen sich seit vielen Jahren für Begegnung und Frieden ein. Was hat sich geändert, seit den Anfängen ihres Engagements?
In den 90-er Jahren gab es zahlreiche israelisch-palästinensische Projekte. Zum Beispiel das Frauenprojekt «Jerusalem Link», an dem ich mitarbeitete. Es war grossartig. Wir haben gelernt mit Respekt und in Würde zu streiten, einander zuzuhören und uns in die Lage des Gegenübers zu versetzen. Als es immer schwieriger wurde, uns zu treffen, haben wir damit aufgehört. Eine Mauer trennt uns. Natürlich können wir per Internet kommunizieren, aber das ist nicht dasselbe. Wir friedensbewegten Frauen sind inzwischen auch älter geworden, einige haben das Land verlassen. Ich stehe aber immer noch im Austausch mit Freundinnen von damals.

Aber nicht mehr im Rahmen von Projekten?
Nein, eher privat. Die direkte Begegnung zwischen israelischen und palästinensischen Menschen ist immer noch der erfolgversprechendste Weg zum Frieden, davon bin ich überzeugt. Doch seit 15 Jahren gibt es kaum mehr Kooperation, weder in der Wissenschaft noch im Kulturbereich. Gegenseitige Besuche sind nur sehr schwer möglich. Zugleich ist auch das Trennende stärker geworden, die Fronten haben sich verhärtet.

Und wie engagieren Sie sich heute?
Ich unterrichte zum Beispiel in Schulen an fünf Orten Jugendliche in gewaltfreier Kommunikation und dem friedlichen Umgang mit Konflikten. Auch die Mütter lade ich dazu ein, so ist es zugleich Frauenarbeit. Es geht darum, Jugendlichen und Frauen zu helfen, dass sie nicht zerbrechen an der Situation, dass sie nicht zu Gewalt greifen, dass sie Hoffnung und auch Freude bewahren.

Glauben Sie, dass es jemals Frieden geben wird?
Die junge Generation muss wieder an den Punkt kommen, dass Austausch und Begegnung stattfindet, um zu erleben, dass wir nicht geboren werden und uns automatisch hassen. Auch die Mehrheit der Menschen in Israel fühlt sich nicht wohl mit dieser Politik des Ausschlusses. Ich selbst werde den Frieden nicht mehr erleben, ebenso meine Kinder nicht. Aber ich halte an der Hoffnung fest, dass meine Enkelkinder es schaffen.

Interview: Christa Amstutz, reformiert.info

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