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«Ich sehe viele düstere Zukunftsperspektiven»

von Nicola Mohler, reformiert.info
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09.12.2021
Eine Podiumsdiskussion in Zürich nahm den Nahen Osten unter die Lupe. Mitorganisator und Islamwissenschaftler Simon Wolfgang Fuchs spricht über die Region als Krisenherd und was aus der Idee des Säkularismus geworden ist.

Herr Fuchs, der Nahe Osten wird hier im Westen oft nur noch als Krisenherd wahrgenommen: Gewalt, scheinbar unlösbare Konflikte und Korruption. Stimmt dieses Bild?
Dieses Bild ist wohl leider gerechtfertigt, wenn wir uns die Region als Ganzes ansehen. In Ägypten, Libyen, Syrien oder Jemen etwa finden wir eine sehr deprimierende Situation vor. Die Türkei befindet sich in einer schweren Wirtschaftskrise, in Iran haben sich alle Reformhoffnungen zerschlagen. Die israelische Gesellschaft ist tief gespalten, die Vision eines eigenen palästinensichen Staates in weite Ferne gerückt. Ich sehe viele düstere Zukunftsperspektiven.

Vor ein paar Wochen haben die Bauarbeiten für die Planstadt Neom in Saudi-Arabien begonnen. Das 500 Milliarden Dollar Projekt soll ein Zentrum für Umweltschutz und erneuerbare Energie werden. Das sind doch gute Neuigkeiten.
Neom soll die perfekte Welt schaffen. Roboter erledigen dort alle niederen Arbeiten. Ein absolutes Zukunftsversprechen, das eine globale Elite von sogenannten «Träumern» anziehen soll. Das ist faszinierend. Aber das Problem bei diesem Projekt ist, dass Bürgerinnen und Bürger nicht ins Projekt involviert waren. Ihre Meinung war nicht gefragt, Kritik nicht erlaubt. Neom ist ein autoritärer Traum des saudischen Kronprinzen, bei dem anstatt eines Bürgermeisters ein von ihm abhängiger CEO die Geschicke der Stadt leiten soll.

Zionismus, Sozialismus, Panarabismus: Der Nahe Osten ist geprägt von Ideen des 20. Jahrhunderts, die das gesellschaftliche Zusammenleben neu gestalten sollten. Ist der Arabische Frühling auch eine Utopie?
Das Jahr 2011 war für die ganze Region unzweifelhaft ein Moment der Begeisterung. Die Vision stand im Raum, dass man auf lokaler Ebene demokratische Experimente durchführen kann, über konfessionelle Grenzen hinweg. Dass sich mit sozialen Medien autoritäre Regime in die Knie zwingen lassen. Der Arabische Frühling hat deutlich gezeigt, dass die Menschen im Nahen Osten nicht in einer Region leben, die radikal von Europa geschieden ist. Die dortigen Forderungen nach Würde, Absicherung oder einer lebenswerten Zukunft sind uns nicht fremd, sondern ganz allgemeine, nachvollziehbare menschliche Wünsche.

Welche Folgen sehen Sie im Scheitern des Arabischen Frühlings?
Das Scheitern hat viele bereits bestehende Dystopien weiter befeuert. – Damit meine ich Erzählungen, in der eine erschreckende oder nicht wünschenswerte Gesellschaftsordnung der Zukunft dargestellt wird. Ein frühes Beispiel ist das Buch «Utopia» des Ägypters Ahmed Khaled Towfik. Die Geschichte spielt in Ägypten im Jahr 2023. Menschen leben in einer abgeschottenen und militärisch gesicherten Luxussiedlung. Sie geben sich aus Europa importierten Drogen hin und greifen zur Gewalt, um sich lebendig zu fühlen. Ein weiteres Beispiel ist das Theaterstück «Damaskus 2045» des Syrers Mohammad al-Attar. Die syrische Hauptstadt wird als wirtschaftlich blühende und pulsierende Stadt dargestellt. Ein Ort, an dem Bewohnerinnen und Bewohner sicher sind. Der Preis für das Aufblühen des einst vom Krieg zerstörten Landes ist, dass die Vergangenheit in den Köpfen der Menschen gelöscht worden ist. Es gab keinen Bürgerkrieg, keine Gräueltaten des Regimes. Alle Syrerinnen und Syrer sind davon überzeugt, dass die Regierung und die gesamte Bevölkerung vereint gegen den islamischen Staat gekämpft hätten. Die Kunst vermittelt uns deutlich, wie es in den Gesellschaften des Nahen Ostens brodelt. Aber das zeigt uns natürlich auch die Realität, etwa im Libanon, wo sich im letzten Jahr die grosse Explosionskatastrophe im Hafen von Beirut ereignet hat.

Auch wenn die Hoffnung auf einen grundsätzlichen politischen Systemwechsel sich im Libanon weitgehend zerschlagen hat, so demonstrieren die Libanesinnen und Libanesen immer wieder für die Zukunft ihres Landes auf den Strassen.
Es ist diese Beharrlichkeit der Menschen, die die Hoffnung keimen lässt, dass sich in den Ländern doch etwas ändern wird. Sowohl im Libanon, im Irak oder auch in Syrien sieht man immer wieder Menschen, die sich unter gefährlichsten Umständen auf die Strasse wagen und ihren Unmut kundtun. Aber leider wissen die Regierungen nur zu genau, wie sie diese Menschen zum Schweigen bringen. Neuartige Überwachungstechnologien helfen dabei.

Gibt im Nahen Osten kein Land, dessen Entwicklung Ihnen Hoffnung macht?
(Überlegt lange) Doch, Oman ist vielleicht ein solches Beispiel. Das Land hat einen Weg gefunden, dass verschiedene Gruppen wie Sunniten, Schiiten und Ibaditen friedlich zusammenleben. Die Regierung weiss, wie sie mit verfeindeten Staaten der Region umgeht, auch wenn sie von diesen umgeben ist: Saudi-Arabien und Iran. Während die anderen Staaten auf der arabischen Halbinsel von einem Hyperkapitalismus angetrieben werden, schränkte das Sultanat die Entwicklungen in der Vergangenheit bewusst ein, um die Bevölkerung dabei miteinzuschliessen. Das Sultanat Oman könnte als Modell dienen. Aber das Land hat kaum eine grosse Aussenwirkung. Es ist kein Zugpferd in der Region, wie Saudi-Arabien oder der Iran.

Was ist aus der Vision geworden, die Staaten im Nahen Osten zu säkularisieren und die Religion zur Privatsache zu machen?
Staaten wie etwa die Türkei oder Syrien haben etwa das Schweizer bzw. das französische Zivilrecht übernommen und dies anstelle des islamischen Rechts gesetzt. Die Idee der Säkularisierung wurde in der islamischen Welt also einmal mehr einfach von oben oktroyiert. Diese Vision kam nicht aus dem Volk, geschweige denn wurde eine gesellschaftliche Debatte darüber geführt. Mit dem Import europäischer Modelle verschwanden wesentliche Elemente des islamischen Rechts aus dem Alltag. – zuvor hatte jeder Händler täglich bei ganz profanen Transaktionen mit islamischen Recht zu tun. Das brach jetzt weg. Damit wurde die Scharia dann plötzlich zu etwas rein Transzendenten und «Heiligen» Denn die Bevölkerung hatte nur noch einen Bezug zu stark religiösen Aspekten, wie Beten oder Fasten, aber nicht mehr mit deren Anwendung im Geschäftsalltag. Es ist ein Paradox, während Religion zur Privatsache werden sollte, wurde sie in ihrer Bedeutung aufgewertet.

Nicola Mohler, reformiert.info

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