News aus dem Kanton St. Gallen

Was verletzlich macht

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19.01.2022
In verschiedensten Situationen wird einem Menschen vor Augen geführt, wie verletzlich er ist. Eine Klinikseelsorgerin und eine Demenzberaterin erzählen, wie es gelingt, die eigene Verwundbarkeit anzunehmen.

Meret Engel aus Romanshorn ist Klinikseelsorgerin in der Psychiatrie St.Gallen Nord. Sie begegnet Menschen, die eine ambulante Therapie in Anspruch nehmen und ihr gewohntes Leben weiterführen können. Andere bleiben über mehrere Monate stationär in der Klinik oder kommen immer wieder. Viele kämen freiwillig, andere hingegen – zum Beispiel auf der forensischen Station – müssen auf einer geschlossenen Station verweilen.

Die Verletzlichkeit dieser Menschen könne sich aufgrund der unterschiedlichen Umstände individuell zeigen: vom Gefühl, das eigene Leben entgleite, über die Angst, sich selbst oder andere zu verlieren bis hin zur Erfahrung, fremdbestimmt zu sein. «Besonders verletzlich sind Menschen auf der Demenz- und Delirstation», erklärt Meret Engel. Diese seien nicht nur psychisch beeinträchtigt, sondern litten häufig auch an körperlichen Gebrechen.

Geliebt und angenommen
Im Christentum werde das Leiden durch den Tod von Jesus aufgenommen. Gott selbst habe sich dadurch verletzlich gezeigt. «Deutlicher kann nicht zum Ausdruck gebracht werden, dass auch der verletzliche Mensch eine Würde hat, geliebt und angenommen ist.» Dabei gehe es nicht um eine Verherrlichung des Leidens: Vielmehr wiesen Kreuz und Auferstehung darauf hin, dass das Leiden Teil des Lebens sei – aber auch, dass Hoffnung geschenkt sei, dass das Dunkle durchstanden werden könne.

Vertrauen finden
Meret Engel hat schon erlebt, dass ein sterbender Mensch zum Glauben gefunden hat. Vorausgesetzt, man verstehe unter dem Glauben das tiefe Vertrauen, dass man von Christus getragen ist. In Erinnerung geblieben sei ihr eine Person, die sagte: «Wissen Sie, es geht eigentlich gar nicht darum, dass ich verstehe, warum ich das durchmachen muss. Sondern, dass ich mich einfach hingeben kann.» Das tiefe Vertrauen dieser Person habe sie sehr berührt.

Umgang lernen
Häufig sei schon ein Gespräch über das Sterben und den Tod hilfreich, damit Angehörige und Betroffene besser mit der Endlichkeit des Lebens umgehen können. Laut Engel leben wir in einer Gesellschaft, die uns das Gefühl gibt, man könne das Leben im Griff haben. Die Rede vom Sterben des autonomen Menschen finde sie aber nur bedingt hilfreich. «Ich habe die Erfahrung gemacht, dass gerade in Momenten, in denen Menschen ihre Verletzlichkeit ausdrücken können, das Leben in seiner ganzen Tiefe wahrgenommen wird.»

Daher glaubt die Klinikseelsorgerin, dass wir uns viel von der Intensität, Lebendigkeit und Fülle des Lebens wegnehmen, wenn die Endlichkeit und Bedürftigkeit des Menschen nicht thematisiert würden. «Wer nahe beim Tod ist, ist auch nahe beim Leben.» Eine scheinbar paradoxe Aussage, die aber dem christlichen Zeugnis entspreche, dass uns weder der Tod noch das Leben von der Liebe Gottes trennen können. Engel vertieft ihre Erfahrungen an einer Tagung (siehe Kasten) wie auch Myriam Tong, die einer anderen Art von Verletzlichkeit begegnet.

Fähigkeiten verlieren
Myriam Tong ist aufsuchende Demenzberaterin und besucht Betroffene und ihre Angehörigen – meist Ehepaare. Menschen mit Demenz verlören zunehmend ihre Fähigkeiten, was besonders zu Beginn der Erkrankung emotional und psychisch äusserst anspruchsvoll sei. Damit einhergehend erlebten sie Gefühle wie Angst, Verzweiflung und Einsamkeit. «Die Einsamkeit beschreibt die Diskrepanz zwischen der erwünschten und tatsächlichen Menge und/oder Qualität der Beziehungen im Alltag», sagt Myriam Tong.

Trotz Demenz sei den Betroffenen im frühen und teils auch mittleren Stadium durchaus bewusst, dass sie ihre Aufgaben nicht oder nur noch teilweise erfüllen können. Demnach fühlten sie sich oft macht- und hilflos. «Jede chronisch fortschreitende Erkrankung führt bei den Betroffenen und ihren Angehörigen phasenweise zu einer erhöhten psychischen Verletzlichkeit.» Angehörige sähen, wie der demenzkranke Mensch seine Fähigkeiten verliert, müssen diese übernehmen und finden sich plötzlich in einer neuen Rolle wieder – das belaste.

Konkrete Hilfe
Die Demenzberatung setzte mit Hilfe zur Selbsthilfe ganz konkret an: Sie vermittle zum richtigen Zeitpunkt an die richtige Institution, informiere über das Krankheitsbild und unterstützte im Umgang mit den unterschiedlichen Symptomen der Erkrankung. In diesem Prozess könne die Spiritualität hilfreich sein. «Ein Gebet gemeinsam mit dem betroffenen Ehepaar vermittelt Ruhe und Zuversicht.»

Es schenke Klarheit, um anschliessend schwierigere Themen, wie beispielsweise eine zunehmende nächtliche Unruhe oder Wahnvorstellungen, zu besprechen und weitere Massnahmen einzuleiten. Ebenfalls könne ein Besuch in der Kirche und das Anzünden einer Kerze Hoffnung schenken.

Gefühle bleiben ansprechbar
Eine Demenzerkrankung bärge auch Chancen im Miteinander auf der Gefühlsebene. «Mag die Erkrankung noch so unerbittlich fortschreiten, in der Gefühlswelt bleiben die Betroffenen sehr lange ansprechbar. Hier verbirgt sich aus meiner Sicht der Schlüssel zu einem liebevollen Miteinander, trotz Demenz.»

 

(Jana Grütter)

 

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