News aus dem Kanton St. Gallen

Ein freundlicher Blick erfreut das Herz

min
24.10.2022
Nach zwei Jahren Reisebeschränkung konnten wir unsere amerikanischen Verwandten wieder in die Arme schliessen. Das Wiedersehen, der Besuch bei meiner betagten Mutter, das gemeinsame Essen in der Cafeteria des Alterszentrum: das alles kostete auch Tränen. Es war eine lange Zeit ohne Besuche gewesen.

Ein paar Tage später besuchten sie uns im Glarnerland. Wir unternahmen eine kleine Wanderung auf Kerenzen. Es war ein Tag, an dem wir in einer warmen Welle amerikanische Freundlichkeit badeten. Es war einfach alles »wonderful«, »so beautiful«, »lovely«, »marvelous«. Sie haben es »geliebt« vom Sessellift aus den Tiefblick auf den Walensee und den Ausblick Richtung Amden zu bestaunen, am Talalpsee zu picknicken, auf dem Rundgang die Blumen zu bestaunen, im Beizli Kaffee zu trinken und über Kuhweiden zurück zum Sessellift zu wandern. (Nur ein »schreckliches« Unkraut am See, eine schwarze Schwalbenwurz wie sie meinten, führte zum Stirnrunzeln.) Auch das einfache Abendessen bei uns zuhause wurde mit vielen Komplimenten bedacht. Und natürlich sind unsere erwachsenen Töchter und unser Sohn »just wonderful young people«. 

Ich musste schmunzeln. Denn wir hatten mal versucht, ihnenzu erklären, dass wir durchaus finden, dass wir tolle junge Leute in der Familie haben. Aber dass wir sie nie so »über allen Klee« loben würden. Wir taten das, um zu erklären, dass wir vielleicht im Vergleich mit der amerikanischen Begeisterung etwas zurückhaltender mit Komplimenten sind. Sie nahmen das etwas konsterniert zur Kenntnis.

Dieses Bad in amerikanischer Freundlichkeit hat gut getan. Es tut gut, sich den »Daumen hoch« nicht verdienen zu müssen. Es ist schön, Komplimente zu bekommen. Es motiviert, wenn sich jemand über ein einfaches Essen und kleine Geschenke so offensichtlich freut. War es oberflächlich? Nein, natürlich nicht. Auch wenn wir uns selten sehen, sind wir uns ihrer lebhaften Anteilnahme und tatkräftiger Unterstützung (dank dem Internet) sicher. 

Da sind wir doch eher auf der anderen Seite der Gemütsskala angesiedelt. Das »Daumen hoch« muss man sich verdienen. Wir sind meist zurückhaltend und kritisch. Diese Haltung bringen wir dann mit »realistische Einschätzung« oder »graad-use« oder »offen und ehrlich« und mit »Klartext reden« in Verbindung. Das ist alles gut und recht, auch wenn es erfahrungsgemäss ziemlich unrealistisch ist, dass sich auf diese Art etwas zum Guten verändert. Da braucht es die gute alte Tugend »Freundlichkeit«, wenn sich dies als positive Kraft erweisen soll. Man muss ja nicht grad alles »wonderful« finden. Aber einfach und bodenständig dem Gegenüber Wohlwollen, Wertschätzung und ein Lächeln entgegenbringen. Oder eben: »Mit einem freundlichen Blick dem Herz des andern zugeneigt sein«, wie es in der Bibel heisst. Und: nicht nur im Persönlichen und Privaten oder in der Kirche ist die Freundlichkeit eine positive Seelenkraft. Sie ist auch eine politische Tugend, die kleine Weltverbesserungen im Alltag möglich macht (so Robert Misik in einer grossen, schweizerischen Tageszeitung).