News aus dem Kanton St. Gallen

«Ich wünsche mir einen Aufbruch»

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08.07.2016
Für Margot Käßmann ist die grösste Leistung der Reformation die Glaubens- und Gewissensfreiheit. Im Interview spricht die deutsche Theologin über die Chance für die Ökumene im Reformationsjahr und den Schweizer Beitrag zum Reformationsjubiläum.

Frau Käßmann, Ihr Vortrag am Bodensee-Kirchentag hiess «2017 – Was gibt es zu feiern?». Wie lautet Ihre Antwort?
Es gibt viel zu feiern: Die Reformationsgeschichte, die bewirkte, dass der Mensch durch eigenes Denken zum Glauben findet. Das bildet einen wichtigen Gegenpol zum Fundamentalismus, der dem Menschen Zwang auferlegen will: Glaub, was dir gesagt wird. Wir feiern auch, dass wir heute eine ökumenische Bewegung haben und Katholiken und Protestanten bewusst ist, dass uns mehr verbindet, als uns trennt. Was damals verschiedene Wege ging, hat heute wieder zusammengefunden. Und wir können feiern, dass wir den Dialog der Religionen gelernt haben. Da ist die Lerngeschichte der Kirchen über Luther hinausgewachsen.

Die Reformation hat einen Prozess ausgelöst, der bis heute weitergeht.
Ja, nur hat dieser Prozess bereits viel früher begonnen. Schon das Konzil zu Konstanz 1414 bis 1418 gehört dazu. Jan Hus ist Teil der Reformationsgeschichte. Die Reformation besteht nicht nur aus Martin Luther und dem 16. Jahrhundert. Die Veränderungen der letzten hundert Jahre zeigen sich auch darin, dass das Reformationsjubiläum 2017 nicht mehr deutsch national gefeiert wird wie noch 1917, sondern international und ökumenisch. Diesmal wird es ein weltoffenes und globales Fest.

Sie sind Botschafterin der Evangelischen Kirche Deutschland EKD für das Reformationsjahr. Welche Botschaft wollen Sie vermitteln?
Mir ist zuallererst wichtig, dass die Menschen das Jahr 2017 wahrnehmen und möglichst nach Wittenberg kommen. Wir werden dort von Mai bis September eine Weltausstellung «Reformation» gestalten und diskutieren, was Reform und Reformation heute bedeutet, mit Blick auf Spiritualität und Glauben, aber auch auf Politik, die Flüchtlingskrise und Europa. Ich wünsche mir am Ende einen Aufbruch. Als Christen müssen wir uns nicht zurückziehen, wir haben hier in diesem Land etwas zu sagen und sollten uns einbringen.

Kurz zusammengefasst für einen Laien: Was ist die historische Leistung der Reformation?
Für mich ist die historische Leistung der Satz: In Glauben und Gewissen ist jeder Mensch frei. Das ist das Ergebnis der Reformation. Du darfst deinen Glauben frei wählen und auch ohne Glauben leben. Die Religionsfreiheit ist ein hohes Gut ebenso die Gewissensfreiheit. Martin Luther hat gesagt: Wenn ihr mich nicht mit Argumenten der Vernunft und aus der Bibel heraus widerlegt, widerrufe ich nicht. Das war meines Erachtens der Schritt zur Individualität des Gewissens und bedeutet, dass der Einzelne entscheiden muss.

Dadurch ist die Bindung an die Kirchen nicht mehr einfach gegeben.
Ja, denn die Kirche ist für die Evangelischen nicht Vermittlerin des Heils, sondern schlicht eine Gemeinschaft von Menschen, die an Jesus Christus glauben und sich zusammentun. Das ist ein grosser Unterschied zur römisch-katholischen Kirche.

Müssen wir Evangelischen deshalb mehr um die Mitglieder kämpfen?
Ja. Die Evangelischen hängen nicht mit solcher Inbrunst an ihrer Kirche wie die Katholiken. Sie treten manchmal schneller aus. Aber das Christentum ist eine Frage der Gemeinschaft: Jesus blieb nicht allein, sondern zog mit Jüngerinnen und Jüngern durch Palästina. Die Gemeinschaft gehört zum christlichen Glauben. Ich bedaure es, wenn Menschen die Kirche einfach verlassen.

Trotzdem: Die Bedeutung der Kirche ist keine Frage der Grösse.
Ganz und gar nicht. Wir müssen auch Mut, machen, zu sagen, es kommt nicht auf die Zahlen an. Die Kirche der DDR beispielsweise war sehr klein. Sie hat aber Grosses geleistet, indem sie einen Freiraum geschaffen hat auch für politische Diskussionen. Ich denke, in unserem Land hat die Kirche, selbst wenn sie zur Minderheit würde, viel zu sagen zur Würde jedes Menschen, unabhängig davon, ob er nun alt und arm oder jung und ein erfolgreicher Unternehmer ist. Menschenwürde bedeutet, dass das Leben Sinn macht, auch wenn ich nicht wie Heidi Klum aussehe. Das sind Botschaften, die wir heute brauchen.

Da sind wir beim Reformations-Gedanken «allein aus Gnade Gottes». Was bedeutet das in einer Leistungsgesellschaft des 21. Jahrhunderts?
Mir ist das wichtig, weil viele Menschen den Eindruck haben, sie seien nur etwas wert, wenn sie erfolgreich sind und viel Geld verdienen, wenn sie schön sind, wenn sie ein Haus, eine Jacht, ein Auto vorweisen können. In dieser Gesellschaft sagen zu können, dein Leben macht Sinn, du bist eine angesehene Person, weil Gott dich ansieht, egal was andere Menschen von dir halten, ist wichtig. Ich denke, das kann für viele Menschen heute befreiend wirken. Jeder Einzelne hat Würde. Luther hätte gesagt, ganz gleich, ob eine Besen schwingende Magd oder ein regierender Fürst, in der Würde gibt es keinen Unterschied. Ich glaube, diese Botschaft ist für viele wichtig, die sich überflüssig und wertlos fühlen.

Zu einem anderen Aspekt: Gehen die Schweizer Reformierten 2017 neben den Deutschen nicht unter?
Ich freue mich sehr, dass sich die Schweizer Reformierten von Anfang an an den Jubiläumsfeierlichkeiten beteiligt haben. Zuerst gab es ein bisschen Kritik, es drehe sich alles um Luther und Calvin und Zwingli würden an den Rand gedrängt. Aber dann luden die Schweizer und deutschen evangelischen Kirchen ihre Partnerkirchen aus der ganzen Welt zu einem Kongress ein, der eine eigene Dynamik entwickelte. Zum Schluss sagten wir, wir starten 2017 gemeinsam und wir Deutschen übergeben dann den Schweizern den Stab, damit diese ihr Zwinglijahr 2019 in Zürich feiern.

Was können die Schweizer Reformierten beitragen?
Die Leuenberger Konkordie bildete 1973 einen wichtigen Durchbruch. Die Reformierten, die Lutheraner und die Unierten in Europa beschlossen, sich gegenseitig als Kirchen anzuerkennen und zusammen Abendmahl zu feiern. Das hat die reformierten Kirchen und die lutherischen und unierten Kirchen in Europa eng zusammengeschlossen. Es gibt heute das Bewusstsein, dass wir als protestantische Kirchen Europas etwas beizutragen zu dieser Welt. Ich denke, dass gerade das Genfer Collège Calvin die Bildungsbewegung der Reformation in alle Welt hinaustrug. Die Puritaner in den USA beispielsweise wurden sicher stärker von den Reformierten inspiriert als von den Lutheranern.

Für die Reformierten sind Luthers Thesen ein Grund zum Feiern. Für die Katholiken bedeuteten sie den Beginn der Kirchenspaltung. Bietet das Reformationsjahr eine Chance für die Ökumene?
Es ist eine Chance für die Ökumene, weil wir heute gar nicht mehr so sehr von Kirchenspaltung reden. Im 16. Jahrhundert kam der Individualismus auf, so dass sich die Menschen emanzipiert haben, auch im Bezug auf den Staat und die Kirche. Wenn wir die Vielfalt positiv sehen, dann bedeutet die Veränderung des 16. Jahrhunderts keine Spaltung, sondern eine notwendige Differenzierung. Die Katholiken werden sich am Reformationsjubiläum beteiligen, weil sie selber eine Reform durchlebt haben. Wir reden heute nicht mehr von Gegenreformation, sondern von der katholischen Reformbewegung. Vieles, das die Reformation gefordert hat, hat der Katholizismus umgesetzt. Er hat den Ablass gegen Geld abgeschafft und die Messe in der Sprache des Volkes eingeführt. Ich möchte aber keine Einheitskirche, in der alles gleich ist. Verschiedenartigkeit einzuebnen, wäre doch nicht erstrebenswert. Verschiedenheit ist auch kreativ.

Solange man sich gegenseitig leben lässt?
Ja. Gestern Abend hat mich ein Mann gefragt, ob wir nicht endlich das Grabtuch von Turin anerkennen wollen. Da hab ich gesagt, nein, das tut mir leid, das können wir Evangelischen nicht, Reliquien bedeuten uns nichts. Jetzt lassen sie mich lutherisch sein, und ich lasse sie mit ihrem Grabtuch katholisch sein.

Erwarten Sie den Besuch des Papstes zum Jubiläumsjahr?
Ich sag mal so: Für die Evangelischen ist das ja nicht so relevant, für uns ist jeder getaufte Christ nach Luther Priester, Bischof, Papst. Es wäre gewiss ein riesengrosses Medienereignis. Fixieren sich alle auf den Papst, wäre das nicht evangelisch. Wir wünschen uns vor allem, dass die Menschen in den Gemeinden vor Ort ermutigt werden, zu ihrem Glauben zu stehen. Das ist unser Ziel und nicht, dass der Papst nach Wittenberg kommt. Aber wenn er kommen mag, ist er wie alle anderen herzlich eingeladen!

Dieser Artikel stammt aus der Online-Kooperation von «reformiert.», «Interkantonaler Kirchenbote» und «ref.ch».

Adriana Schneider / Kirchenbote / 8. Juli 2016

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