News aus dem Kanton St. Gallen

Dem lebendigen Wasser begegnet

min
20.12.2018
Diese kurze Weihnachtsgeschichte handelt von einem Esel, dem seine ehrenvolle Aufgabe irgendwann zu Kopf stieg. Er wurde zum Lastenträger degradiert und fand so seine eigentliche Bestimmung.

Als ich noch jung war, begleitete ich oft tagelang den Hirten und seine Schafe. Ich musste für sie Wasserquellen finden. Das war eine schöne Aufgabe: Ich, der graue Esel, führte die Tiere zum lebensnotwendigen Wasser. Ich fühlte mich schon ziemlich wichtig! Es war teilweise eine mühevolle Aufgabe, die Wasserläufe zu finden. Und gerade ich hatte diese ehrenvolle Aufgabe!

Manchmal stieg mir dies ein bisschen zu Kopf und ich gab ziemlich an damit. Und, wenn mir eine Herde nicht passte, liess ich mir manchmal absichtlich ein bisschen Zeit, bis ich sie zur Quelle führte. Die sollten nur ein bisschen leiden… Doch das hatte Konsequenzen für mich: Ich verlor meine Arbeit. Ich durfte den Hirten nicht mehr auf seiner Wanderschaft begleiten. Ich musste zu Hause bleiben und wurde Lastenträger und Reittier. Ach, wie ich diese Arbeit hasste! Viele der Reiter benutzten Stock und Stiefel, um mich zum Laufen zu zwingen. Ich war ganz wund geschlagen und wollte am liebsten einfach nur abhauen. Ich hatte es so satt!

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Doch als ich eines Tages wirklich weggehen und gerade aus dem Stall entwischen wollte, kam mein Besitzer auf mich zu, packte mich unsanft am Halfter und übergab mich zwei Leuten. Er sagte: «Hier, dieses Grauohr können Sie haben. Leider kann ich Ihnen kein anderes Reittier als diesen faulen Esel anbieten. Er ist recht stolz und störrisch. Also sparen Sie nicht mit der Rute, sonst kommen Sie nirgends hin!» Wie zum Beweis schlug er mich nochmals und verschwand. Ich kochte innerlich! «Das wird mein letzter Auftrag für diesen Mann sein», schwor ich mir. «Ich werde nicht mehr in diesen Stall zurückkehren. Vielleicht führe ich nicht einmal mehr diesen Auftrag aus, sondern werde von unterwegs abhauen … Soll er doch schauen, wo er bleibt, und wie er das seinen Kunden erklärt, dass sie zwar meine Miete bezahlt haben, aber nichts davon haben.»

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Jemand nahm mein Halfter und sprach beruhigend zur anderen Person: «Steig auf, Liebling. Ich halte so lange unseren Esel.» Erst da blickte ich auf, und was sah ich? Ein Ehepaar stand vor mir. Und die Frau war hochschwanger! Verdattert blieb ich ruhig stehen und liess die Frau aufsteigen. Ich hatte mit rauen Kerlen gerechnet – wie immer. Doch diese Frau war so sanft und sah so zerbrechlich aus… Und auch der Mann war nett. Ich konnte nicht anders als ganz sorgfältig ein Huf vors andere zu setzen und das Ehepaar auf seiner Reise zu begleiten. Immer wieder sprachen sie davon, wie glücklich sie wären, dass sie nun einen Esel hätten. Moment Mal – hatten sie mich meinem vorherigen Besitzer abgekauft?

Ich war ganz in Gedanken versunken, als die Frau plötzlich aufschrie. «Schnell, Josef – das Kind kommt!» Entsetzt schaute mich der Mann an. Auch mir war im ersten Augenblick nicht ganz klar, was das bedeutete. Doch dann überschlugen sich meine Gedanken und wie von selbst führte ich die junge Familie so sanft und doch so schnell wie möglich zu einem Stall, den ich von meinen Wanderreisen her kannte. Dort half der Mann seiner Frau abzusteigen. Ich stand beschützend am Eingang, als die Frau das Kind zur Welt brachte. Als ich dann den ersten Schrei des Kindes vernahm, drehte ich mich um. Mir wurde ganz warm ums Herz, und ich lächelte breit über mein graues, störrisches Eselsgesicht.

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Später erfuhr ich, dass dieses Kind als Erwachsener von sich selber sagte, dass er das lebendige Wasser sei. Da wurde ich ganz beschämt und fröhlich zugleich: Ich, der ich so damit angegeben hatte, die Schafherden zum Quellwasser geführt zu haben, war sein Reittier, als seine Mutter mit ihm schwanger war. Was für eine Ehre!

Sarah Fakhoury, kirchenbote-online, 13. Dezember 2018

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