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«Steh auf, wenn du am Boden bist»

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20.03.2023
Sigmar Willi war schon mehrmals am Boden. Als seine Frau früh starb, zog er die vier Kinder alleine gross. Jahre später geriet er in eine Erschöpfungsdepression – die schlimmste Zeit seines Lebens. Im Rückblick analysiert er, was er brauchte, um vom Boden wieder aufstehen zu können.

«Steh auf, wenn du am Boden bist» – der Songtitel der deutschen Punkrock-Band Die Toten Hosen bringt es auf den Punkt. Der Bedeutung wird man sich allerdings erst bewusst, wenn es einem wieder besser geht. Liegt man am Boden, helfen Ratschläge wenig. Aus einer schweren Krise findet man häufig nur mit Unterstützung heraus. Vielfach gilt es auch, den Lebensstil zu ändern und Rahmenbedingungen neu aufzugleisen. So war es auch in meinem Fall.

Abdankungsfeier war wichtig
Als meine Frau vor 20 Jahren an Krebs starb, war sie 36 Jahre alt, ich ein Jahr älter und die vier Kinder zwischen 7 und 16 Jahren. Bis kurz vor ihrem Tod glaubte ich fest daran, dass sie es schaffen würde. So war ihr Tod für mich und die Kinder ein Schock, obwohl sie fast ein Jahr krank war. Die erste Zeit nach ihrem Tod war geprägt durch Verarbeitungsprozesse. Das waren zum Beispiel Zeichnungen über Ängste, Briefe an die tote Mutter oder Grabbesuche. Wir schauten alte Fotos an, erzählten uns Geschichten über gemeinsame Erlebnisse und liessen die Seele der Verstorbenen teilhaben am Familienalltag, beispielsweise mit aufgestellten Porträts in den Zimmern oder leisen und lauten Zwiegesprächen im leeren Raum. Die Abdankungsfeier war für mich sehr wichtig. So viele Menschen nahmen Anteil an unserem Schicksal. Das hat mich sehr berührt, mir Kraft und Lebensmut gegeben. Dem Pfarrer bin ich für die grosse Unterstützung immer noch dankbar.

«Was immer mit Aktivität verbunden war, liess mich weniger grübeln.»

Jedes Familienmitglied hat anders auf den Tod meiner Frau reagiert. Und jedes Familienmitglied hat etwas anderes gebraucht. Hilfe von Therapeutinnen haben alle in Anspruch genommen. Die einen früher, die anderen später. Immer wieder tauchten bei den Kindern Verlust- oder Bindungsängste auf. Diese zu bewältigen, hat sie wachsen lassen, ihnen einen geschärften Blick für das Wesentliche beschert. Sie haben gelernt, dass man aus Krisen wieder herauskommt, dass es sich lohnt, zu kämpfen. Ich selbst habe meine Kinder viel besser kennengelernt. Ein grosses Glück, für das ich sehr dankbar bin.

Trauer hat etwas Würdevolles
Für mich persönlich war der Tod meiner Frau und die darauffolgende Zeit sehr anspruchsvoll. Es gab aber auch viele ungemein wertvolle Momente. Ich verlor für eine Zeit lang jegliche Angst vor dem Tod. Mir erschloss sich die Trauer als etwas Würdevolles, ja sogar Bereicherndes. Täglich öffneten sich kleine Türchen des Erkennens, was wirklich wichtig ist im Leben.

Wegen Zukunftsängsten in Klinik
Immer grössere Mühe bereitete mir allerdings, die vielen Aufgaben unter einen Hut zu bringen. Ich arbeitete immer noch Vollzeit in verantwortungsvollen Positionen, war alleine zuständig für die Familie und den Haushalt. Neue Beziehungen wollten nicht klappen. Fünf Jahre nach dem Tod meiner Frau geriet ich in eine Erschöpfungsdepression mit starken Zukunftsängsten – die schlimmste Zeit meines Lebens. In einem einmonatigen Klinikaufenthalt lernte ich, wieder ohne Hilfsmittel zu schlafen, und bekam mithilfe von Medikamenten die Ängste in den Griff. Anschliessend war ich drei Monate zu Hause, ging in die Natur und machte Sport. Auch sprach ich mit meinen besten Freunden über meine Situation, kochte für die Kinder und versuchte möglichst viel aktiv zu tun – und seien es auch nur Kleinigkeiten wie Hausarbeiten. Was immer mit Aktivität verbunden war, liess mich weniger grübeln. Alles, was ich erledigen konnte, stärkte mein verloren gegangenes Selbstvertrauen. Auch meditierte ich viel, bat die göttliche Allmacht um Unterstützung, rief die Ahnenenergie an und praktizierte Entspannungstechniken. Jeden Tag machte ich mir einen Plan, in den ich alle Aktivitäten eintrug und am Abend abhakte, was ich geschafft hatte. Geholfen hat mir, dass ich mit einem 50-Prozent-Pensum wieder in den Beruf einsteigen konnte. Später entschied ich mich, mit einem 90-Prozent-Pensum immer einen Tag zu Hause zu bleiben.

Familientherapie half
Langfristig war es wichtig, den einzelnen Lebensbereichen den nötigen Raum zu geben. Ich musste beispielsweise Abschied vom Gedanken nehmen, mich selbstständig zu machen, solange die Kinder Unterstützung brauchten. Oder dass eine lebensunerfahrene Frau in das Familiensystem passen könnte. Sehr schwierig für mich war die Erkenntnis, dass ich meine Kinder überfordert hatte. Mit meinem Tempo, so schnell wie möglich in ein «normales» Leben zurückzuwollen, wollten und konnten sie nicht mithalten. Eine Familientherapie hat viel geholfen, aber nach so vielen Jahren sind immer noch Verarbeitungsprozesse im Gange. Die Auseinandersetzung damit hat aber auch eine gute Seite – wir lernen uns immer noch besser kennen.

 

Text: Sigmar Willi | Foto: zVg – Kirchenbote SG, 21. März 2023