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«Die Evolution ist eine Wunderwelt»

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30.08.2019
Der Mikrobiologe Werner Arber erhielt 1978 den Nobelpreis. Im Juni wurde er 90 Jahre alt. Er erklärt, warum er an die Schöpfung glaubt und spricht über die Probleme der technischen und medizinischen Entwicklung.

Herr Arber, warum glauben Sie als Naturwissenschaftler an die Schöpfung?
Als Wissenschaftler, der sich mit dieser Thematik beschäftigte, habe ich realisiert, dass die Evolution eine Wunderwelt ist. Natürlich wurde der Mensch nicht in sechs Tagen geschaffen, wie es die Schöpfungsgeschichte berichtet, sondern in dreieinhalb Milliarden Jahren, ausgehend von einzelligen Lebewesen. Das Ganze entwickelte sich allmählich. In dieser langen Periode entstanden die Primaten relativ spät vor zwei Millionen Jahren. Vor zehntausend Jahren fing der Mensch an, Tiere und Pflanzen zu zähmen. So begann die Landwirtschaft. Das war der Beginn der menschlichen Zivilisation.

Wo sehen Sie den Sinn des Schöpfungsberichtes?
Die Menschen fragten sich an den verschiedensten Orten der Erde, wie es dazu kam, dass sie hier sind. Diese existenziellen Fragen führten zu den Schöpfungsmythen. Etwa jenen der Genesis. Sie erzählt, wie alles entstand: der Himmel, das flache Land und das Leben. Ich finde es fantastisch, dass die Menschen denken, ich kann nicht der Erste auf diesem Planeten gewesen sein. Ein Schöpfer muss die Pflanzen, Fische und andere Lebewesen und zuletzt den Menschen erschaffen haben. Damit nimmt uns die Genesis in die Verantwortung für die Vielfalt der Lebewesen.

Die Genesis ist kein naturwissenschaftlicher Bericht.
Ja. Als Mikrobiologe verstehe ich es, dass in der Bibel kein Wort über Bakterien steht. Ohne Mikroskop konnten die Menschen diese nicht sehen. Sie konnten auch nicht wissen, dass sie nicht auf einer flachen Scheibe, sondern auf einem runden Planeten leben und ihre Welt nur ein kleiner Teil des Universums ist.

Und alles entstand aus dem Nichts?
Die Astrophysiker sagen uns, dass das Ganze vor 14 Milliarden Jahren aus dem Nichts entstanden ist. In diesem Moment war es wichtig, dass die Grundelemente, die Bausteine der Atome, so angelegt waren, dass sie sich durch Selbstorganisation später zu Lebensbedingungen entwickeln konnten. Vor 3,5 Milliarden Jahren entstanden daraus die ersten Lebewesen. Das geschah in der Evolution.

Beruht die Evolution auf dem Zufall oder erkennen Sie die Handschrift eines Schöpfers?
Darauf kann ich keine endgültige Antwort geben. Am Anfang der Geschichte beobachtete der Mensch die Natur. Er glaubte, dass hinter den für ihn positiven Phänomenen jeweilen eine Gottheit stehen müsse. So entstand die Vielgötterei. Später glaubte man, dass eine Schöpferkraft für alles zuständig sei.

Und was sagen Sie dazu?
Die entscheidende Frage lautet doch, gibt es eine ursprüngliche Kraft, die bis heute wirkt? Die Trinität, die Vorstellung des Vaters, Sohnes und des Heiligen Geistes, bietet eine gute Erklärung. Denn der Vater und der Heilige Geist sind Kräfte im Universum, die in allem sind. Die Schöpfung ist für mich die göttliche Kraft. Der Schöpfer und der Heilige Geist bewirkten von Anfang an, dass die Materie, die beim Urknall entstand, Energie und schliesslich Lebensbedingungen produzierte, sodass das Leben starten und sich entwickeln konnte. Wenn man die Trinität so versteht, kann man sagen: Ja, die Schöpfung ist ein Wunderwerk. Dies ist meine Einsicht.

Bleiben wir bei der Trinität und reden kurz über Christus, den Sohn.
Der Sohn ist ein Mensch. Für uns, die wir auf der Erde leben, ist es wichtig, dass wir ein Beispiel haben, wie wir mit der wunderbaren Schöpfungsvielfalt umgehen müssen. Jesus gab uns Anweisungen, wie wir unser Leben gestalten sollten. Ich behaupte sogar, wenn Jesus heute leben würde, würde er uns zur Einsicht mahnen, die Vielfalt des Lebens auf dem Planeten und die Lebensbedingungen ernst zu nehmen und zu schützen. 

Heute ist diese Vielfalt des Lebens, die Biodiversität, bedroht. Warum ist sie wichtig?
Dies betrifft die Mechanismen der Evolution. Die Lehrbücher sagen aus, dass es für die Evolution des Lebens Veränderungen im Erbgut geben muss, um sich an die Veränderungen in der Umwelt anpassen zu können. Ich versuchte anhand der Bakterien zu sehen, welche Mechanismen zur genetischen Veränderung führen. Die genetisch regulierten Prozesse bewirken dies in einer Selbstorganisation. Die Mutationen sind nicht rein zufällig, sie sind keine Fehler oder Unfälle. Es gehört zur Strategie der genetischen Variation, dass dies so passieren kann. So arbeitet die Natur. Eine kleine Veränderung der eigenen Erbinformation und die Aufnahme von fremder Erbinformation bieten die Möglichkeit – wenn man Glück hat –, sich an neue Lebensbedingungen anzupassen.

Der Mensch greift mit der Gentechnologie in den Schöpfungsprozess ein. Ist dies gefährlich?
Die klassische Gentechnik ist sicher, sofern sie vorsichtig gemacht und kontrolliert wird, bevor man genetisch veränderte Lebewesen in die Umwelt freisetzt. In der Schweiz diskutiert man alle Projekte sorgfältig und stellt Bedingungen für die Kontrolle. Keine der Studien, die inzwischen vorliegen, konnten irgendwelche Gefahren aufzeigen. Leider hat dies die Politik und Öffentlichkeit noch nicht wahrgenommen.

Vor kurzem hat ein chinesischer Arzt bei einem Ungeborenen eine Genmanipulation vorgenommen. Ist es ethisch zulässig, so in die Keimbahnen einzugreifen?
Nach meiner Meinung war dieser Arzt etwas voreilig. Wir wissen, dass gewisse spontane Chromosomenveränderungen zu Erbkrankheiten führen können. Wenn man dies seriös erforscht und die betroffene genetische Veränderung korrigiert, sollte es doch möglich sein zu verhindern, dass Familien an Erbkrankheiten leiden müssen. Damit könnte man viel Leid ersparen. Ich bin überzeugt, dass dies durch weitere Forschung bald möglich sein wird.

Können Sie sich vorstellen, dass der Mensch einst mit Hilfe der Medizin unsterblich wird?
Die Wissenschaftler fanden heraus, dass gewisse Lebewesen in ihrem genetischen Schatz die Möglichkeiten haben, ihr Leben zu verlängern. Aber nicht bis zur Unsterblichkeit. Man diskutiert immer wieder darüber, ob es gut sei, wenn der Mensch unsterblich wäre. Das ist ein absoluter Unsinn. Auf dem Planeten leben schon jetzt zu viele Menschen, deshalb zerstören wir die Umwelt. Wenn wir ewig leben könnten, dann dürften wir keine Nachkommen haben. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass ein unendliches Leben ein gutes Leben wäre. Aber das sind reine Hypothesen.

Fakt ist, dass es mithilfe der Medizin und Naturwissenschaften gelungen ist, die Lebenserwartung zu verlängern.
Unsere heutige Lebenserwartung ist dank kompetenter medizinischer Betreuung bedeutend grösser als im Mittelalter. Die Wissenschaft und Technologie haben Entwicklungen gebracht, die man sich vor einigen hundert Jahren nicht vorstellen konnte. Heute muss auch niemand mehr zu Fuss und zu Pferd reisen, wir nehmen das Auto, den Zug oder das Flugzeug. Viele der Probleme, wie Umweltverschmutzung, CO2-Ausstoss oder Klimawandel, sind Folgen des wissenschaftlichen Fortschritts.

Beschäftigt man sich als Naturwissenschaftler mit solchen Fragen?
Ja. Ich bin Mitglied der päpstlichen Akademie der Wissenschaften und machte in mehreren Artikeln klar, dass wir unbedingt vermeiden müssen, dass die biologische Vielfaltstark reduziert wird. Lebewesen werden immer wieder aussterben, das geschah mit den Dinosauriern und wird weiter passieren. Auch wenn der Mensch massiv auf die Umwelt einwirkt, hat dies enorme Auswirkungen. Der Club of Rome machte schon vor Jahrzehnten auf diese Entwicklung aufmerksam.

Sie kennen die Umweltproblematik aus eigener Erfahrung. Sie stammen aus einer Bauernfamilie.
Ich bin in einem Landwirtschaftsbetrieb aufgewachsen. Als Kind half ich bei der Arbeit, riss das Unkraut aus und pflanzte während des Krieges Raps an. Unser Pflug wurde von einem Pferd gezogen. Die heutige Landwirtschaft fährt mit schweren Traktoren über die Felder und versprüht Herbizide und Insektizide, damit kein Unkraut mehr wächst und schädliche Insekten sterben. Daran hat auch die Technologie ihren Anteil.

Für Sie sind ethische Fragen wichtig. Hat das einen biografischen Hintergrund?
Meine Familie ging fleissig in die Kirche und ich wurde konfirmiert. Meine Mutter wirkte auf mich ein, ich solle doch Pfarrer werden. In der Bezirksschule im Aargau belegte ich Latein als Freifach, aber kein Griechisch. Am Gymnasium in Aarau machte ich weiter, immer mit der Absicht, vielleicht Pfarrer zu werden. Als ich jedoch an der Kantonsschule Altgriechisch lernen wollte, merkte ich, dass es unmöglich war, den mir fehlenden Stoff nachzuholen. Da gab ich es auf und schrieb den Pfarrberuf ab. In der Schule interessierten mich vor allem die Naturwissenschaften, und so studierte ich dann an der ETH.

Sie haben sich Ihr Leben lang mit der Evolution des Lebens auseinandergesetzt. Was ist der Sinn des Lebens?
Es ist schwierig, das in wenigen Worten zu beschreiben. Wir sind Lebewesen und erfahren von Tag zu Tag, dass das Leben sinnvoll ist.

Interview: Karin Müller und Tilmann Zuber, kirchenbote-online, 30. August 2019

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