News aus dem Kanton St. Gallen

«Alles riecht nach Angst»

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12.07.2021
Die Theologin und Historikerin Alena Alshanskaya beschreibt die dramatische Lage in ihrer Heimat Belarus. Die Kirchen kuschten vor dem Diktator, sagt sie. Und verweist auf den Mut einzelner Priester und evangelischer Gemeinschaften.

Alena Alshanskaya, wie beurteilen Sie die aktuelle Lage in Belarus?
Spreche ich mit Freundinnen und Freunden, höre ich von der Angst, die in der Luft hängt. Die Repression kann jeden und jede treffen. Sicherheitskräfte stürmen Wohnungen, nehmen Menschen fest. Die politischen Gefangenen werden gefoltert. Alles riecht nach dieser Angst. Und jeder Tag, der verstreicht, ist eigentlich einer zu viel. Viele Menschen sehen kein Licht am Ende des Tunnels, das ist sehr frustrierend. Ich kann mir sehr gut vorstellen, wie es sich anfühlt. Ich war zuletzt kurz nach den Wahlen in Minsk. Ich fühlte mich wie in einem grossen Gefängnis. Es gab keinen freien Zugang zum Internet, kaum Informationen, nur den Lärm der Granaten in der Nacht.

Was gibt Ihnen Hoffnung?
Das belarussische Volk ist nach dem katastrophalen Umgang der Regierung mit der Covid-19-Krise, dem Wahlbetrug durch Lukaschenko und der gewaltsamen Niederschlagung der Proteste aus seiner jahrelangen politischen Apathie erwacht. Dieser Wandel in der Gesellschaft ist unumkehrbar. Wenn Demokratie und Freiheit schmerzhaft erstritten wurden, sind sie besonders wertvoll. Wir dürfen jetzt nicht aufgeben, gerade weil viele politische Gefangenen derart leiden. Ihr Kampf darf nicht umsonst gewesen sein. Ich glaube fest daran, dass alles gut wird, aber nicht alle, die sich danach sehnen, werden das erleben. Leider.

Mit der Verhaftung und öffentlichen Demütigung des Journalisten Roman Protassewitsch wurde die ganze Brutalität des Regimes nochmals offensichtlich.
Lukaschenko hat sich jahrelang auf diese Situation vorbereitet, indem er seinen Sicherheitsapparat kontinuierlich ausgebaut hat. Deshalb hat er die Mittel, den Protest zu unterdrücken. Mit seinen brutalen Methoden versucht er der Demokratiebewegung Zugeständnisse abzuringen. Die Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja wurde in einem Interview gefragt, ob sie ihren Widerstand aufgibt, wenn im Gegenzug ihr Mann aus der Haft entlassen wird. Sie verneinte und sagte, dass alle politischen Gefangenen frei gelassen werden müssen. Ihr Mann sei nicht mehr wert als andere Menschen. Diese Konsequenz ist ganz wichtig. Würde Tichanowskaja nach Belarus zurückkehren, alles aufgeben und schweigen, würde sie höchstwahrscheinlich ihren Mann schon bei sich haben. So funktioniert Lukaschenko: Er sucht den Deal, um sich an der Macht zu halten.

Wer entscheidet, ob ihm das gelingt? Am Ende doch Moskau?
Das belarussische Volk muss die Verantwortung für sein Schicksal selbst übernehmen. Natürlich spielt Wladimir Putin eine Schlüsselrolle. Aber er hat nicht damit gerechnet, dass das belarussische Volk selbst zum Akteur wird. Wichtig ist, den internationalen Druck sowohl auf Lukaschenko als auch auf Putin zu erhöhen. Viele Menschen in Belarus würden schärfere Sanktionen der USA und der EU in Kauf nehmen. Das wirtschaftliche Leben ist ja durch die Unfähigkeit der Regierung bereits jetzt zum Erliegen gekommen. Neue Sanktionen würden in erster Linie das Regime und seine Oligarchen treffen, und somit hoffentlich schnelleren Wandel und dann baldigen Wiederaufbau mit sich bringen.

Auch Vertreter der Kirche haben sich gegen Lukaschenko gestellt. Der frühere Erzbischof Tadeusz Kondrusiewicz wurde mit einem Einreiseverbot belegt, weil er gegen Gewalt und Wahlbetrug protestierte.
Kondrusiewicz ist eine empathische, mitleidende Persönlichkeit. Die Lügen nach den Wahlen und die Gewalt gegen friedliche Demonstranten haben ihn tief erschüttert. Deshalb war seine Position von Anfang an sehr klar. Als das Regime seine Haltung mit einem Einreiseverbot sanktionierte, setzten sich auch viele Menschen für ihn ein, die mit der Kirche nichts am Hut haben.

Er wurde zu einem Symbol des Protests?
Wer vom Regime bestraft wurde, war automatisch eine Symbolfigur des Protests. Die Unterstützung der Demokratiebewegung durch öffentliche Personen, egal ob aus der Sportwelt oder der Kirche, war sehr wichtig.

Kondrusiewicz konnte zwar nach Belarus zurückkehren, doch als Erzbischof musste er zurücktreten.
Sein offensichtlich erzwungener Rücktritt hat viele enttäuscht. Allerdings bröckelte sein offener Widerstand bereits vor seiner Rückkehr. Nach einem Besuch in Rom sprach er nur noch allgemein von der Gewalt in Belarus und beklagte die Säkularisierung des Landes als Grund der gesellschaftlichen Krise in Belarus. Inzwischen ist er ohne offizielles Amt und äussert sich in seinen Predigten kaum zur Lage im Land. Das Schweigen von hohen Kirchenvertretern stösst oft auf Unverständnis unter Katholiken. Eine laute Stimme des Protests ist weiterhin der Priester Vjacheslav Barok, der furchtlos das Handeln des Regimes anprangert. Dafür wurde er bereits bestraft.

Er erkaufte sich die Rückkehr mit seinem Schweigen?
Wahrscheinlich wäre es tatsächlich besser gewesen, er wäre im Exil geblieben und hätte seinen Kampf gegen Lukaschenko weitergeführt, indem er vor den europäischen Kirchen und der Öffentlichkeit die humanitäre Krise in Belarus anprangerte. Aber sein Verhalten passt zur Diplomatie des Vatikans. Das ist sehr bedauerlich.

Was ist denn die diplomatische Taktik des Vatikans?
Der Vatikan hat erst nach der erzwungenen Landung des Ryanair-Flugzeugs und der Verhaftung des Journalisten Roman Protassewitsch sowie der entschlossenen Reaktion darauf seitens der EU in einer knappen Stellungnahme seine Unterstützung der legitimen Forderungen des belarussischen Volkes geäussert. Sonst mied der Vatikan die Parteinahme und führte diplomatische Beziehungen mit den Regimevertretern weiter. Als Lukaschenko auf Druck Russlands eine Verfassungsreform initiierte, beteiligte sich die katholische Kirche an den Verhandlungen. Wenn man das Spiel des Diktators mitmacht, verliert man schnell seine moralische Glaubwürdigkeit.

Warum?
Die Demokratiebewegung hatte einen Boykott gefordert. Das Problem von Belarus ist nicht die Verfassung. Das Problem ist, dass die Verfassung nicht eingehalten wird und Menschenrechte verletzt werden. Die katholische Kirche jedoch versuchte, sich ihre Privilegien zu erhalten und moraltheologische Anliegen in die Verfassungsreform einzubringen. So forderte der dafür einberufene katholische Expertenrat unter der Leitung von Kondrusiewicz ein Verbot der Homo-Ehe und ein Abtreibungsverbot. Das passt ins Narrativ von Lukaschenko, mit dem er die Kirchen instrumentalisiert: Belarus soll sich abgrenzen gegen angeblichen Wertezerfall im liberalen Westen und somit auch gegen dessen Verständnis von Menschenrechten. Aber noch mehr problematische Nähe zum Staat hat die orthodoxe Kirche, die sich als grösste Kirche im Land positioniert. Viele bezeichnen sich als orthodox, sind aber entweder gar nicht gläubig oder ihnen bleiben die Inhalte der orthodoxen Lehre fremd.

Woran zeigt sich diese Staatstreue?
Es gibt seit August seitens der Kirchenleitung keine Versuche zum Beispiel den Gläubigen, die sich über das Regime und die Gewalt empören, zuzuhören und auf ihre zahlreichen Anfragen zu reagieren. Man agiert öffentlich ausschliesslich in Interessen der Lukaschenkos Politik. Der Metropolit setzt sich aktiv für die patriotische Erziehung der Jugendlichen und Beruhigung der Gesellschaft ein. Vor wenigen Wochen wurde der orthodoxe Erzbischof von Grodno abgesetzt, angeblich aus gesundheitlichen Gründen. Die Absetzung des einzigen Regimekritikers unter den orthodoxen Bischöfen wurde von der Synode in Belarus beschlossen und von der Synode in Moskau nur einen Tag später bestätigt. Normalerweise vergehen Monate bis zur Bestätigung, doch in diesem Fall hatte es das Moskauer Patriarchat offenbar eilig.

Es gibt also nicht nur eine staatliche, sondern auch eine innerkirchliche Repression.
Die Kirchenführung verlangt von den Priestern offiziell politische Neutralität. Doch wir sind längst an einem Punkt angelangt, an dem es Neutralität nicht mehr geben kann. Es geht nicht um Politik, es geht um das Leiden der Menschen. Wenn die Kirche sich nur um ihr institutionelles Überleben kümmert und ihre Privilegien absichern will, vergisst sie ihren eigentlichen Auftrag vom Evangelium her. Es gibt gläubige Menschen, die im Gefängnis gefoltert werden und die mit ihren Taten und Worten die christliche Botschaft wahrhaftig bekennen.  Sie offenbaren sich als bessere Christen als manche Kirchenführer.

Gibt es Priester, die der Repression standhalten?
Unter Druck sind alle. Nicht nur die Kirche, auch Geschäftsleute, Künstlerinnen, Ärzte, Journalistinnen und Journalisten. Es gibt durchaus einzelne katholische und orthodoxe Priester sowie christliche Gemeinden, die ihre Glaubwürdigkeit bewahrt haben. Die evangelische New Life-Church zum Beispiel hat einen Pfarrer, der sich immer wieder exponiert und in seinen Ansprachen und Predigten der prophetischen Mission der Kirche in dieser Krisensituation treu bleibt. Die Gemeindemitglieder haben eine Videobotschaft gegen die Gewalt aufgenommen. Als Reaktion darauf stürmte die Polizei das Gebäude, in dem die Gemeinde ihre Gottesdienste feierte. Seither versammelt sich die Gemeinde auf einem Parkplatz zum Gottesdienst. Sie zeigt, wie man auch ohne Gebäude und Privilegien Gemeinschaft leben und an den christlichen Werten festhalten kann.

Interview: Felix Reich, reformiert.info

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