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Wo sich die Zukunft entscheidet

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19.07.2021
Ein Ort, um mit seinen Gedanken allein zu sein und sich geborgen zu fühlen: Für Menschen auf der Flucht ist das ein seltener Luxus. Im Bundesasylzentrum Kreuzlingen hat das Seelsorge-Ehepaar Ditthardt eine solche Möglichkeit geschaffen.

Die generelle Stimmung im Bundesasylzentrum (BaZ) ist meist gedämpft. Für viele entscheidet sich in Kreuzlingen endgültig, ob sie in der Schweiz bleiben dürfen oder wieder ausreisen müssen. Diese Atmosphäre für eine kurzen Zeit zu durchbrechen, war die Idee hinter dem neu eingerichteten Raum der Stille. Meike und Marc Ditthardt haben dazu ein ungenutztes Zimmer im betongrauen Verwaltungstrakt in eine farbenfrohe Oase verwandelt. Familien können dort unter sich sein oder Gläubige ihrem Gebet nachgehen. Eine Seltenheit für Menschen, die oft jahrelang auf der Flucht sind, in Camps übernachten und im Asylzentrum in Mehrbettzimmern untergebracht sind.

Wandel zwischen zwei Welten
Das Ehepaar Ditthardt hat seit einem Jahr das Pfarramt in der evangelischen Kirchgemeinde Lengwil inne. Zudem übernimmt es die Seelsorge für Asylsuchende, Mitarbeitende und Security im BaZ. Die Gespräche und Geschichten von Verfolgung, Angst und Gewalt sind ein starker Kontrast zu den Problemen in der idyllischen Landgemeinde. «Oft hilft dieser jedoch, die eigenen Themen in eine andere Perspektive zu setzen», erzählt Marc Ditthardt von diesem Wandel zwischen zwei Welten. 

Die Arbeit im Asylzentrum sei zwar herausfordernd, aber auch erfüllend. «Diese Gespräche erden uns und lassen uns den Blick aufs Wesentliche nicht verlieren», so der 53-Jährige. Ein Umstand, der ihnen auch in der Arbeit in der Kirchgemeinde zugutekommt. Die beiden konnten auch schon Bewohnerinnen und Bewohner zu sich in den Gottesdienst einladen. «Das sind immer ganz spezielle Momente», erinnert sich Meike Ditthardt. Nicht nur für die Asylsuchenden, sondern auch für die Kirchbürgerinnen und Kirchbürger. «Man spürt, dass sobald ein persönlicher Kontakt da ist, Vorurteile verschwinden und das Menschliche überwiegt.» Für sie sei es Aufgabe von allen Christen, auf Fremde zuzugehen und ihnen mit Liebe zu begegnen.

Wie im eigenen Wohnzimmer
Dass alles ein wenig anders abläuft im Asylzentrum, merkten sie beim Einrichten des Raumes. Meike Ditthardt musste für die Umgestaltung erst einmal eine Liste des angedachten Inventars beim Staatssekretariat für Migration (SEM) einreichen. «Dieses prüfte dann, ob kein gefährlicher Gegenstand dabei ist, der etwa als Wurfgeschoss missbraucht werden könnte.» Gleichzeitig erfuhren sie auch unerwartetes Glück. Aus dem Betreuungsteam des BaZ übernahm Jango Mousa die Gestaltung der Wände. Mousa hat neben seiner Arbeit im Asylzentrum ein Atelier in Stein am Rhein, in der er seiner künstlerischen Ader nachgeht. Mit seinen Wandmalereien hat er einen ganz besonderen Ort der Einkehr geschaffen.

Samtige Sessel und Hocker bieten so einen Ort, an dem sich die Bewohnerinnen und Bewohner sicher und zu Hause fühlen können. Ein Angebot, dass viele zu schätzen wissen und das für vertrauliche Gespräche genutzt wird: «In dieser besonderen Atmosphäre öffnen sich die Menschen viel eher, um von sich zu erzählen», erzählt Meike Ditthardt. «Gerade Frauen schätzen es, wenn sie mir als Frau Belastendes erzählen können und wir einen gemeinsamen Weg gehen. In der letzten Zeit sind auch vermehrt Paare zu uns gekommen, die mit uns beiden sprechen wollten. Es kamen auch Anfragen, ob wir mit ihnen in der Bibel lesen und beten könnten.»

Bibel und Koran sind im Bücherregal eingereiht und Gebetsteppiche liegen bereit, doch andere religiöse Symbole fehlen. Der Raum der Stille soll ein neutraler Ort sein, der allen offensteht. Dennoch kann man mit der Wandmalerei Psalmbilder aus der Bibel assoziieren. «Für viele fühlen sich die Jahre auf der Flucht wie eine Reise durch die Wüste an, in der man machtlos ist», berichtet Marc Ditthardt. Seine Frau ergänzt: «Das Baummotiv an der Wand erinnert an Psalm 1 und kann so zu einer Quelle der Hoffnung werden, wo Gottesbegegnungen stattfinden.»

Andere können im Raum der Stille endlich ihren Hunger nach Gott und Jesus stillen. Für ein zum Christentum konvertiertes Ehepaar, das aufgrund ihres neuen Glaubens aus ihrem Heimatland fliehen musste, biete sich hier zum ersten Mal die Möglichkeit, ihren Glauben offen auszuleben. Sie hätten erzählt, dass trotz all des Leids, das sie auf ihrer Reise erfahren mussten, der Glaube in den dunkelsten und schwierigsten Momenten am stärksten gewesen sei.


(Emil Keller)

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