Lernen für das Leben
Kirchenbote: Herr Feigenwinter, Sie haben lange Pädagogen ausgebildet. Was sind Ihre Visionen für die Volksschule?
Max Feigenwinter: In Deutschland sagt man den ersten Schuljahren «Grundschule». Das finde ich ein gutes Wort, den es geht darum, den Grund zu legen, das Fundament zu bauen, auf das dann aufgebaut werden kann. Kleine Kinder sind lernfreudig. Diese Lernmotivation kann erhalten und gestärkt werden, wenn der Unterricht kindgemäss ist, wenn die Kinder selber entdecken, selber tun können. Die Grundlagen müssen methodisch vielfältig eingeübt und gesichert werden. Und immer gilt Pestalozzis Satz: Alles Lernen ist keinen Heller wert, wenn die Freude dabei verloren geht.
Warum sollen auch Erwachsene sich weiterbilden?
Leben heisst verändern, nicht verändern ist tot, heisst es in einem Gedicht. Wir erfahren jeden Tag, wie viel sich schnell verändert. Wer sich mit den Veränderungen nicht auseinandersetzt, kann bald nicht mehr mithalten. Denken wir an die technischen Entwicklungen. Aber auch im Leben jedes Menschen kann es Veränderungen geben, die enorm fordern, ein Umlernen verlangen. Denken wir an gesundheitliche Veränderungen: Was bisher ganz selbstverständlich möglich war, ist nicht mehr. Wie viele Menschen müssen lernen, alleine zu leben, weil der Partner, die Partnerin gestorben ist.
Wie beurteilen Sie die «Erwachsenenbildungslandschaft» in der Schweiz?
Diese ist dicht besiedelt. Wir wissen, dass heute eine abgeschlossene Lehre nicht genügt, berufliche Fortbildung ist verlangt, und es gibt viele Angebote. Mit diesen Fortbildungen erhält man zusätzliche Diplome, die einen Aufstieg im Beruf ermöglichen. Daneben gibt es unzählige Institutionen und Vereine, die Referate und Kurse zu verschiedensten Themen anbieten.
Was ist die spezifische Aufgabe kirchlicher Erwachsenenbildung?
Unsere Kirchen haben die Aufgabe, den Menschen die Frohe Botschaft nahezubringen. Ich denke an den Mann von Nazareth. Er hatte kein Curriculum, das er «durchbringen» wollte.
Er ging auf die Leute zu, nahm wahr, was sie brauchten, und half ihnen, mehr und besser zu leben. Er ging so auf die Menschen zu, dass sie wieder mehr an sich und ihre Möglichkeiten glaubten; wagten zu sagen und zu tun, was ihnen wichtig war. Weil er durch sein Dasein und sein Sosein Wunderbares bewirkte, folgten ihm die Leute.
Was heisst das für die Arbeit der Kirchen?
Die Bedürfnisse der Menschen spüren, ihnen helfen, ihren Weg zu gehen, sie zu unterstützen und zu stärken, wenn die Probleme und Zweifel zu gross und die Kräfte zu schwach sind.
Einfühlsame Präsenz, Wohlwollen, Bereitschaft für das Gespräch helfen vielleicht, dass jemand spürt: Hier wird nicht nur gesprochen und gepredigt, was wie sein müsste; hier sind frohe Botschafter oder Botschafterinnen, die versuchen zu tun, was und wie Jesus getan hat.
Was sind Ihre Empfehlungen?
Kirchgemeinden sollen Veranstaltungen anbieten, die sich mit existenziellen Fragen befassen. Viele Leute, die sich aus unterschiedlichen Gründen von der Kirche distanziert haben, befassen sich sehr wohl mit Fragen des Lebens. Aber sie haben Mühe, kirchliche Räume zu betreten. Darum empfehle ich die Kooperation mit andern Anbietern. Bei uns hat sich während Jahren die Zusammenarbeit der kirchlichen EB mit der EBS (Erwachsenenbildung Sarganserland) bewährt. Diese Kooperation ist auch sinnvoll, weil nicht jede Kirchgemeinde über Personen verfügt, die im Bereich Erwachsenenbildung stark vernetzt sind.
Via moderne Medien können heute beliebige Lerninhalte auf dem Computer oder das Smartphone geholt werden – eine Konkurrenz für die kirchliche Erwachsenenbildung?
Es ist fantastisch, wie viele Möglichkeiten wir heute haben. Viele werden auch genutzt. Allerdings sind es nur wenige, die sich selbständig lesend mit solchen Fragen auseinandersetzen. Vergessen dürfen wir in diesem Zusammenhang auch nicht Sendungen am Radio und am Fernsehen, die sehr informativ, methodisch geschickt und motivierend sind. Sie alle ersetzen aber die Begegnung mit andern nicht. Nicht alle brauchen dasselbe, schön, wenn es deshalb eine grosse Auswahl an Möglichkeiten gibt.
Interview | Fotos: Andreas Schwendener – Kirchenbote SG, Oktober 2015
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