News aus dem Kanton St. Gallen

Die zwei Hunderternoten

von Katharina Meier
min
23.04.2024
Kathrin Bolt, Pfarrerin der Kirche St.  Laurenzen, St.  Gallen, suchte im Gottesdienst zwei Freiwillige und überreichte ihnen je hundert Franken. Meie Lutz, eine der Beschenkten, schreibt über dieses Erlebnis und den Auftrag, den sie dabei erhielt.

«Wie sind sie in die Tasche unter dem Talar gekommen? Zwei Hunderternoten im Sonntagmorgengottesdienst?  Sichtbar gemacht. Verschenkt an zwei Gottesdienstbesuchende. Die hatten sich aufs Risiko eingelassen, waren dem Aufruf der Pfarrerin gefolgt, welche zwei Freiwillige zu sich gerufen hatte. Ich bekomme den ersten Geldschein mit dem Auftrag, mir damit bis am Montagabend etwas zu kaufen, einfach für mich, etwas, das mir Freude mache. Die zweite Note bekommt der Mann, der auch den Mut hatte, dem Aufruf zu folgen. Er soll mit dem Geld etwas Gutes tun. Auch bis am Montagabend.

Geben ist seliger denn nehmen

Dann folgt die Predigt über das Bibelwort: Geben ist seliger denn Nehmen; über die Frage, wer von uns beiden in der kommenden Woche wohl glücklicher, zufriedener sei. Eine Studie habe gezeigt, dass die Probanden, die mit Geld etwas Gutes tun, es teilen, letztlich zufriedener seien als jene, die geschenktes Geld einfach für eigene Gelüste verbrauchen. Beim Kirchenkaffee frage ich, was andere mit dieser Hunderternote und ihrem ‹Fluch›, sie schnell für sich zu verbrauchen, anfangen würden. Eine Frau würde mit jemandem essen gehen, andere stimmen ihr zu. Eine andere ginge zu einer Pediküre, eine dritte würde sich Bücher kaufen. Es entsteht ein schönes Gespräch. Beim Hinausgehen treffe ich mit der mir unbekannten Frau, welche mit jemandem essen ginge, zusammen. Ich folge meinem Impuls, sie zum Mittagessen einzuladen, und sie folgt meiner Einladung. Wir sitzen am Sonntagnachmittag lange im ‹Pelikan›, reden, erzählen einander, geniessen das Essen, ein Dessert, den Kaffee, die Gemeinschaft. Am Schluss habe ich immer noch zwanzig Franken in meiner Tasche. Mein Auftrag ist noch nicht ganz erfüllt. Und ja, es war ja nicht nur für mich, diese Einladung.  So gehe ich am Montagnachmittag in die Stadt, immer noch mit dem Gedanken, was ich mir denn um Gottes Willen noch Gutes tun könnte. Und jeder Plan in mir hat eine soziale Komponente: Ich würde im Claro-Laden etwas kaufen, einer Pediküre eine Arbeitsstunde ermöglichen, der Buchhändlerin ein Buch abkaufen – das wiederum wäre für die Schriftsteller von Nutzen. So in Gedanken gehe ich durch die Multergasse.

Ich höre Strassenmusik

Dort höre ich schon von Ferne drei Strassenmusikanten: Zymbal, Akkordeon und Bass. Sie spielen so lebendig, dass ich tanzen muss. Da stört mich mein Rucksack nicht. Ich tanze. Und der Musiker am Zymbal spielt immer verrücktere Kapriolen und wir tanzen zusammen, er auf dem Zymbal, ich auf der Strasse, mitten in den von der Arbeit kommenden Vorübergehenden. Keiner und keine von ihnen lässt sich anstecken, um mitzutanzen. Meine von den hundert Franken noch übrige Zwanzigernote findet schnell ihren Weg in den Koffer der drei Männer. Wir lachen einander zu. Der Tanz belebt mich mit Freude und Heiterkeit und Lebendigkeit. Habe ich den Auftrag erfüllt? Wie auch. Diese Predigt war nachhaltig und hat mich erfüllt. Danke Kathrin!»

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