News aus dem Kanton St. Gallen

«Mich gegen das Kind zu entscheiden, wäre gegen mein Naturell gewesen»

von Andrea Kobler, Journalistin, Marbach
min
25.04.2024
Rebecca De Rinaldis ist in der 17. Woche schwanger, als sie erfährt, dass ihr Baby kaum Überlebenschancen hat.

Für die Mutter war schnell klar, dass sie nicht selber über Leben oder Tod entscheiden wird. Heute ist Eleonora acht Jahre alt und ein «Sonnenschein».

«Ich bin so erzogen worden, dass man alles stemmen kann, das einem auferlegt wird», sagt Rebecca De Rinaldis. Am liebsten hätte sie als 16-Jährige eine Familie gegründet. Ein Mann, ein Haus, vier Kinder. Das war ihr Traum. Dieser schien sich zu verwirklichen. Sie heiratete Dino und schon bald füllten Matteo und Gabriel das Haus mit Leben. De Rinaldis erwartete ihr drittes Kind, als ihr die Frauenärztin in der 17. Schwangerschaftswoche mitteilte, dass das Stammhirn des Babys nicht richtig ausgeprägt sei und es einen Hydrocephalus habe. Der werdenden Mutter wurde aufgrund einer geringen Überlebenschance zur Abtreibung geraten. «Als Kind rettete ich jedes Vögelchen. Mich gegen das Kind zu entscheiden, wäre total gegen mein Naturell gewesen», blickt Rebecca De Rinaldis zurück.

Gegen alle Erwartungen weinte Eleonora nach der Geburt und «nuggelte» am Schnuller.

Die Schwangerschaft und Geburt waren psychisch und emotional schwierig. Brüder und Verwandte durften Eleonora kurz nach der Geburt kennenlernen, eine Nottaufe wurde organisiert, Herzensbilder gemacht. Entgegen allen Erwartungen weinte Eleonora nach der Geburt und «nuggelte» am Schnuller. Dank Frühförderung und vieler Therapien machte sie ständig Fortschritte, wenn auch verzögert. Heute ist sie acht Jahre alt. Sie hat eine Hirnanlagestörung, einen Shunt und leidet an Epilepsie.

Kuchen backen und Wäsche aufhängen

«Eleonora ist ein Sonnenschein. Sie zeigt, dass sie glücklich ist und ist eine grosse Bereicherung für die Familie», erzählt Rebecca De Rinaldis. Eleonora besucht die Schule der Stiftung Kronbühl in Wittenbach, hat einen unbändigen Willen, kann essen, trinken und lernt derzeit laufen. Den Mittwoch verbringt sie mit ihrer Mama. Nach der morgendlichen Physiotherapie gehen sie auf Besuch oder machen Ausflüge. Meist backen sie einen Kuchen, den Eleonora mit Freude probiert, hängen zusammen im Garten Wäsche auf. «Den gemeinsamen Alltag findet Eleonora sehr lässig», erzählt ihre Mama, für die die Tage mit ihrer Tochter ebenso schön wie intensiv sind. Es gibt viele Parallelen zu Gleichaltrigen. Eleonora mag Wandern nicht und tobt, wenn sie keine Jacke anziehen möchte. Hingegen ist sie sehr geduldig, wenn zum Beispiel einer ihrer Brüder, die 12 und 14 Jahre alt sind, mehr Aufmerksamkeit benötigt.

Auch die Brüder lieben ihre Schwester. Nicht alles können De Rinaldis als Familie gemeinsam unternehmen, aber was sie machen können, schätzen sie: zum Beispiel Sommerferien im Wohnwagen. Gewisse Reisen seien zudem ein Privileg. So im Jahr 2022 die zweiwöchige, teils durch Spendengelder finanzierte Reise zur delfingestützten Therapie auf Curaçao, die ihnen viel Kraft verlieh.

«Ich will nicht tauschen»

Im Alltag werden De Rinaldis durch die Kinderspitex, Freiwilligenhilfe, die Grosseltern und den grossen Freundeskreis unterstützt. In Zukunft möchten sie einmal im Monat ein Entlastungswochenende geniessen. Dies, damit die Familie ausschlafen, etwas Spezielles mit den Jungs unternehmen oder Energie durch einen ruhigen Nachmittag auf dem Liegestuhl tanken kann. Auch sonst hat sich Rebecca De Rinaldis ihre Oasen geschaffen: Gemeinsam mit ihrem Ehemann Dino im Garten grillieren, ein Cüpli trinken, einmal die Woche ein gemeinsames Mittagessen geniessen, ein bis zweimal im Jahr an einem Fest bis in die Morgenstunden tanzen oder Kampfsport trainieren, der ihr den Rücken stärkt. «Ich bin mir selber sehr wichtig. Das ist wohl meine Überlebensstrategie», erzählt sie. Trotz des Schicksals ihrer Tochter sagt sie: «Ich bin glücklich mit meinem Leben und will mit niemandem tauschen.»

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