«143, Dargebotene Hand, Grüezi»
Das Telefon klingelt dreimal. «143, Dargebotene Hand. Grüezi», meldet sich Hannah. Stille, Atmen oder ein leises Weinen folgt. Ein Gespräch beginnt. Meist belanglos. Hannahs Aufgabe ist es, zuzuhören und zu erkennen, was den Anrufer oder die Anruferin beschäftigt. 19 923 Kontaktaufnahmen waren es bei der Dargebotenen Hand der Ostschweiz und Liechtensteins im letzten Jahr. Bei einigen nagt die Einsamkeit (10 Prozent). Anderen wächst gerade die Arbeit über den Kopf, sie wissen nicht, wo sie beginnen sollen(21 Prozent).
Arbeitet man bei der Nummer 143, muss man die Menschen gernhaben.
Hannah fällt auf, dass Anrufe von Personen mit psychischen Erkrankungen zugenommen haben (24 Prozent). Viele telefonieren auch aus Kliniken. Die Aufgabe von Hannah und ihren Kolleginnen und Kollegen ist es, zuzuhören und mit ihnen zu sprechen, ohne sie mit Ratschlägen vollzupacken. Das ist eine Kunst und Übungssache: «Die Anruferin oder der Anrufer – rund zwei Drittel sind Frauen – ist die Hauptperson. Alles erfolgt anonym. Wir treten bewusst in den Hintergrund.» Der Rucksack, den die Hilfesuchenden tragen, ist oft enorm und wird honoriert. Dennoch wird versucht, im Jetzt zu bleiben: «Der enorme Druck, unter dem die Menschen leiden, ist spürbar. Doch wir können die Vergangenheit nicht ändern und kennen die Zukunft nicht. Deshalb arbeiten wir an der Gegenwart.»
Das Ungewisse ist belastend
Geht Hannah zur Arbeit, stimmt sie sich gerne mit Gedichten und Weisheiten ein. Zum Beispiel mit dem Spruch «Wir können den Wind nicht ändern, aber die Segel anders setzen» von Aristoteles. Nennt sie ihn in Gesprächen, seien viele Menschen bereit, ihr Problem mit anderen Augen zu sehen oder eine Auslegeordnung zu machen. Bei der «Dargebotenen Hand» gleicht kein Arbeitstag dem anderen. Die meisten Menschen rufen am Abend zwischen 18 und 19 Uhr an. «Nach der Arbeit, wenn die privaten Herausforderungen wieder aufkeimen.» In der Nacht ist die Anlaufstelle ein Notfalltelefon. «Wenn jemand Gespräche über das Alltagsgeschehen führen möchte, verweisen wir auf den Tag», erklärt Hannah.
Das Gefühl, jemandem helfen zu können, bringt Zufriedenheit.
Es gibt Dienstzeiten mit wenigen Anrufen. Dann blättert sie zwischendurch in der Fachliteratur. Aber es gibt auch Dienste, bei denen Hannah an ihre Grenzen gelangt. «Einmal riefen mich drei Personen hintereinander mit Suizidgedanken an. Ich war nudel-fertig, konnte nicht gleich nach der Arbeit heimfahren. Die Lebensgeschichten der Menschen, die bei uns anrufen, sind uns nicht egal. Wir sind keine Maschinen. Es gibt Dinge, die unter die Haut gehen.» Belastend sei manchmal, dass man den Ausgang der Geschichte nicht kenne – das Ungewisse.
Helfen bringt Zufriedenheit
Es gebe aber auch schöne Momente. «Immer, wenn man Dankbarkeit verspürt. Das Gefühl, jemandem helfen zu können, bringt Zufriedenheit. Einmal bedankte sich eine Frau bei mir, dass sie noch lebe. Die ‹Dargebotene Hand› habe ihr als Jugendliche geholfen, Suizidgedanken abzustreifen», erzählt Geschäftsleiterin Judith Eisenring.
Hannah passt ins Bild der Freiwilligen bei der Dargebotenen Hand. Es sind vorwiegend Menschen, die sich aus dem Erwerbsleben verabschiedet haben und eine neue Herausforderung suchen. Als Vorbereitung werden die Mitarbeitenden in 200 Lektionen unter anderem in Selbstreflektion, Gesprächsführung oder Kriseninterventionen in akuten Krisensituationen geschult. Für Hannah ist klar: «Arbeitet man bei der Dargebotenen Hand, muss man Menschen gernhaben.» Für sie ist die Arbeit sinnstiftend und hat auch das Leben in ihrer Grossfamilie verändert. Durch die Freiwilligenarbeit spreche sie anders, höre mehr zu: «Dies wirkt sich auch positiv auf meine Familie aus.»
*Der Name Hannah ist erfunden, nicht aber das Gespräch.
«143, Dargebotene Hand, Grüezi»