#15: Weihnachsstern

Woche 51. Die Lichterketten vor Noahs Bürofenster täuschen nicht darüber hinweg, dass dieses Jahr kein Schnee fallen mag. Man wird sich daran gewöhnen müssen, hat die Wetterfee zwischen Nachrichten und Werbung verkündet. Noah schreitet durch den Korridor. Keine Spuren von schmutzigem Schnee auf dem Bodenbelag, daran wird sich die Putzfrau gerne gewöhnen. Im Ernstfall wäre diese Passage eine tödliche Falle, hat Noah in Woche 50 bemerkt. Er könnte auf das Flachdach flüchten, wo die Krähe eine Taube fortscheucht. Wer wirft diesen Vögeln Futter zu? Mia vielleicht, aus deren winzigem Büro eine unversiegbare Duftkerze seit Woche 49 die Etage flutet.

Vorne betritt Noah die Kanzlei, mit dem Rücken zu ihm steht Lena am Fenster. «Der zweite Stern links blinkt violett, alle andern strahlen weiss», sagt Lena ernst. «Und dort, der Stern rechts leuchtet gar nicht.» Sie mustern die Ketten von Weihnachtssternen über dem schwarzen Platz. Unten im Karussell ruhen die mechanischen Rentiere, hinter jedem Schlitten steht ein Santa Claus auf den Kufen. Die Weihnachtsmänner warten starr auf die Musik und den Trockennebel, im Takt werden sie mit dem Kopf nicken. Oh du heilige Einfalt.

«Das geht gar nicht», ruft Lena aus. «Die schönste Weihnachtsbeleuchtung der Schweiz, und dann Mängel!» Die beiden kichern. Alice, ihre einstige Teamkollegin, ist vor einem Jahr zur Leiterin der Stadtwerke gewählt worden. «Noah, rufst du Alice an, oder soll ich?», scherzt Lena. «Alice, deine Männer müssen sofort den zweiten Stern links und den dritten rechts ersetzen», sagt Noah. Die beiden lachen auf. «Aller Stern!», ruft Lena und öffnet das Fenster.

Am nächsten Morgen tritt Noah aus dem Aufzug in den Duft von Sandelholz und Zitrusfrüchten. Er wirft einen Blick in die Kanzlei. Draussen vor dem Fenster schweben zwei Männer mit orangen Schutzhelmen auf einer Hebebühne hoch und ersetzen die Strahlen des erloschenen Sterns. Sie wissen, was sie tun.