News aus dem Kanton St. Gallen

Ein Hoch auf die Familienbande

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23.05.2018
Familie gilt als ziemlich heisses Eisen, je nach Erfahrung. Doch während manchmal der Eindruck vorherrscht, sie habe bald einmal ausgedient, belegen Zahlen das Gegenteil.

Rund drei Viertel aller Unter-25-Jährigen in der Schweiz wachsen bei Ehepaaren in sogenannten Erstfamilien auf, wie das Bundesamt für Statistik weiss. Das bedeutet natürlich keineswegs, dass Kinder in Ein-Eltern-Haushalten (15 Prozent), Patchworkfamilien (10 Prozent) oder gleichgeschlechtlichen Paaren (0,1 Prozent) per se unglücklicher wären. Denn es kommt letztlich auf die Qualität der Beziehungen an, nicht auf ihre äussere Form. Es zeigt aber, welchen Rang die klassische Familie als Lebensmodell offenbar hat. 

«Die Heilige Familie war so furchtbar heilig in Wahrheit gar nicht.»

Die Shell-Jugendstudie belegt sogar einen Anstieg ihrer Wertschätzung. Der Wunsch, ein gutes Familienleben zu führen, ist demnach bei Jugendlichen im Alter von 12 bis 25 Jahren auf stolze 92 Prozent gestiegen, gegenüber 85 Prozent vor 15 Jahren. Materielle Werte wie ein hoher Lebensstandard fallen dagegen mit 69 Prozent deutlich ab. 

Wertschätzung steigt
Auch der Zukunftsreport «Familie 2030» zeigt diesen Trend. Danach gaben 79 Prozent an, dass ihnen Familie ein Gefühl von Sicherheit gebe. Und sogar 89 Prozent sagten, dass sie mit Familie das Gefühl von «Lieben und geliebt werden» verbinden, – jeweils zehn Prozent mehr als bei der letzten Erhebung vor zwölf Jahren. «Familie eröffnet Gestaltungsfreiräume und ist eine Sinn- und Lebensziele vermittelnde Instanz», heisst es. Die Eidgenössische Jugendbefragung «CH-X» schliesslich zeigt, dass 98 Prozent aller 18-Jährigen eine stabile Beziehung als Voraussetzung für Nachwuchs betrachten, 74 Prozent sehen eine Heirat dafür als gute Idee. Religiös begründet scheint dieses Revival der Familie kaum zu sein. Dafür ist die kirchliche Bindungskraft zu wenig ausgeprägt, bei nur noch rund einem Viertel der jungen Leute, laut CH-X-Studie. Auch die reformierte Kirche hat sich längst von der Einteilung in «richtige» und «falsche» Familienmodelle verabschiedet. «Das entscheidende Kriterium für die Regelung des menschlichen Zusammenlebens in Familien und familienähnlichen Partnerschaften ist die Qualität der Beziehungen der Lebensgemeinschaft» heisst es in einem Communiqué des Kirchenbundes von 2002.

Verspreizte Beziehungen
Vielleicht hat man sich dabei daran erinnert, dass die «Heilige Familie», die alljährlich zur Christnacht kommerziell überhöht gefeiert wird, so furchtbar heilig in Wahrheit gar nicht war. Das zeigt sich schon bei Vater Josef, der wegen der ungewollten Schwangerschaft seiner Verlobten Maria zunächst das Weite suchen will. Er fürchtet um seinen guten Ruf, wie die Bibel nüchtern berichtet. Erst nach zwei Träumen begreift er, dass der Mut, Verantwortung zu tragen, wichtiger ist als sein Leumund. Er verlässt Job und Heim und kümmert sich – auf der Flucht – um Kind und Familie. Immerhin.

«Meine Eltern haben mich geschlagen. Ich habe mich unsichtbar gemacht.»

Auch sonst galten die Beziehungen in der Jesusfamilie als eher verspannt. Schon in der Pubertät hatte der junge Spross seine Eltern in Bestürzung versetzt und war seelenruhig abgehauen. Er wolle lieber bei seinem himmlischen Vater sein, meinte er trocken. Seine Brüder Josef, Simon und Judas hielten ihn später schlicht für «von Sinnen», also für psychisch krank. Und als seine Mutter den derweil Erwachsenen sehen will, als er mit Fremden diskutiert, weist er sie schroff zurück. «Das hier sind meine Mutter und meine Brüder.» Ein anderes Mal schockt er sie mit der Frage «Frau, was habe ich mit Dir zu tun?». Doch es wird auch erzählt, die Mutter sei ihm in der Todesstunde nahe gewesen. Als sein himmlischer Vater ihn verlassen hatte. Was für ein Bild für die Tragfähigkeit familiärer Bindungen! Trotz allem.

«Ich will eine eigene Familie»
Anna R.* hat von solcher Liebe wenig erfahren. «Meine Eltern haben mich geschlagen.» Meistens sei Alkohol im Spiel gewesen, erzählt die heute 42-Jährige. Als Kind habe sie sich total zurückgezogen. «Unsichtbar gemacht». Eine Strategie, um nicht weiter Prügel zu beziehen. 

Als Jugendliche kam sie als Aupair in eine christliche Familie, die ihr zutraute, auf die Kleinkinder aufzupassen. Das sei die Wende gewesen. Sie konnte – und wollte – es besser machen als ihre Eltern. Und probierte es aus. «Ich merkte, dass was zurückkommt», erinnert sie sich, «das gab mir Halt.» Menschen, die Anna R. als Kind gekannt haben, kennen das einst verschüchterte Mädchen heute kaum wieder. Sie hat selbst Familie, keine heilige Familie, aber eine, die zusammenhält, wenn es draufankommt.

Kein Ort der Geborgenheit
Es gibt auch das Umgekehrte. Menschen, deren Familiengeschichte den Keim der Gewalt trägt. Der Autor hat in seiner Tätigkeit in zwei Strafanstalten nur wenige Insassen getroffen, die ihre Herkunftsfamilie als Ort der Geborgenheit und des Selbstvertrauens erlebten. Dominik F.* ist einer, der sie als Brutstätte des Hasses bezeichnet. Er sitzt wegen schwerer Körperverletzung. «Ich habe mich eigentlich am Vater abreagiert», sagt er im Rückblick über den Gewaltausbruch. Der Endzwanziger hat heute nur zwei Wünsche: Kontaktabbruch und eine eigene Familie aufbauen. «Ich habe keine Ahnung, ob’s klappt, aber ich will.» In einer Gesprächsgruppe im Knast hat er versucht, Vertrauen zu fassen. «Das ist ein bisschen wie Familie.»

Wichtige Funktionen
Die Schicksale von Anna und Dominik bestätigen, was der Basler Soziologieprofessor Walter Hollstein beobachtet. Danach sei die Familie, selbst dort, wo sie als Negativfolie erlebt werde, als tragfähiges Modell in Bezug auf Fürsorge, Stabilität und Glück unentbehrlich. Sie erfülle die wichtige emotionale Funktion, Geborgenheit und soziale Einbindung zu vermitteln. Darum bedeuteten Familien für die überwiegende Mehrheit junger Leute Halt und Orientierung sowie erste Anlaufstelle bei Problemen aller Art. 

«Dominik F. hat sich mit Gewaltausbrüchen am Vater abreagiert. Heute wünscht er sich eine eigene Familie.»

innerer Kreiselkompass

Darüber hinaus garantiere Familie auch gesellschaftliche Stabilität und fungiere als Schule des Zusammenlebens. Sie vermittle früh die Erfahrung, dass es ausser einem selbst noch andere Menschen mit Bedürfnissen, Erfahrungen und Ansprüchen gebe. «Diese Bedürfnisse müssen wir genauso respektieren lernen wie andere Menschen die unsrigen.» Die Regelung dieses Umgangs geschehe durch die familiäre Vermittlung eines «inneren Kreiselkompasses» aus Werten, Sitten und Bräuchen. Darum zieht er den überraschend-witzigen Schluss: «Die Alternative zur Familie ist die Familie.» Wie genau die im Einzelfall dann auch immer gestaltet wird.

 

Text: Reinhold Meier | Bilder: Symbolbilder  – Kirchenbote SG, Juni-Juli 2018

 

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