News aus dem Kanton St. Gallen

Das Unaushaltbare aushalten

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21.10.2019
In einer Zeit, die alles in Griff bekommen will, erscheint der Tod als grosses Fragezeichen. Die ökumenische Fachstelle Begleitung in der letzten Lebensphase (BILL) will die Schwere und die Hoffnung, die darin erfahrbar wird, für Betroffene fruchtbar machen. Kein Job für Weicheier.

Mehr als zwei Drittel aller Befragten möchten zu Hause sterben. Das geht aus mehreren Studien hervor. Denn die gewohnte Umgebung mache das Sterben erträglicher und bringe mehr Würde mit sich. Nur vier Prozent würden ein Heim bevorzugen und gerade mal zwei Prozent ein Spital. Die Wünsche gehen meist nicht in Erfüllung: Tatsächlich sterben drei Viertel im Heim oder im Krankenhaus. Dies, obschon die Pflegebereitschaft von Angehörigen hoch ist. «Wir sehen eine grosse Bereitschaft, die Pflege bis zum Tod zu übernehmen», betont Professor Herbert Reschber, Autor des renommierten DAK-Pflegereports. Doch dafür bedürfe es verlässlicher Strukturen vor Ort.

Nachfrage steigt und steigt
Zu solch verlässlichen Strukturen bietet die Fachstelle BILL in St. Gallen seit rund 20 Jahren wichtige Impulse und konkrete Unterstützung: mit Kursen für betroffene Angehörige und mit Öffentlichkeitsarbeit. Die Nachfrage ist gross: «Voriges Jahr hatten wir 60 Teilnehmende, dieses Jahr bereits 100», berichtet Stellenleiterin Anne Heither. Deshalb habe man neben dem Grundkurs jetzt auch einen Aufbaukurs entwickelt. «Die Leute wollen einfach mehr wissen», freut sie sich. Sie beobachte auch, dass ein Kurs erst nach seinem Abschluss richtig Wirkung entfalte. «Das sind tolle Menschen, die sich dann vor Ort engagieren, in einer Hospizgruppe zum Beispiel.»

 

«Ich habe früh erfahren, wie sensibel Schwerkranke Emotionen wahrnehmen.»
Anne Heither, Stellenleiterin BILL

 

Austausch ermöglichen
Und worum genau geht es in den Kursen? «Es geht zunächst darum, Grundwissen zu vermitteln», erklärt Heither. Sterbeprozess, Abschied, Trauer, Bedürfnisse von Schwerkranken und Sterbenden, aber auch Fragen der angemessenen Kommunikation, das seien zentrale Themen. «Wir wollen einen Raum zum Austausch unter Betroffenen schaffen», betont die junge Theologin, «und Neugierde wecken, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen.»

Durch die Grossmutter geprägt
Heither arbeitet auch als Spitalseelsorgerin und Supervisorin. Daher ist es kein Zufall, dass gerade sie sich dem Thema so verbunden fühlt. «Ich bin damit gross geworden», erinnert sie sich. Ihre Grossmutter sei nach einem ärztlichen Kunstfehler pflegebedürftig gewesen. So habe sie schon früh erlebt, wie die Oma spürte, wenn ihr die Enkelin nahe gewesen sei, obschon sie nach menschlichem Ermessen bloss bewusstlos dagelegen sei. Dasein, Aushalten, Empathie – ja, sie habe früh erfahren, wie sensibel Schwerkranke Stimmungen und Emotionen wahrnähmen. 

Der wichtigste Wunsch:nicht alleine zu sterben.

Hoffen, ohne alles zu verstehen
Heither redet lebhaft, aber kann auch gut zuhören. Dabei wirkt sie nie so, als hätte sie einfache und endgültige Antworten auf das Rätsel des Todes. «Ich weiss nicht, ob ich selbst mal ruhig und sorglos sterbe oder in Panik vor dem grossen Unbekannten», erklärt sie mit entwaffnender Ehrlichkeit. Aber sich dem zu widmen, davon sei sie gepackt. «Das Thema hat zu wenig Bedeutung.» Ja, und auch die Fachstelle würde mehr Stellenprozente vertragen, deutet sie vorsichtig an. Die Kirchen würden hier als «wahnsinnig unterstützend» erlebt, betont sie. Sie nähmen eine grosse gesellschaftliche Aufgabe wahr. Schliesslich habe die jüdisch-christliche Tradition über Jahrhunderte ein anspruchsvolles theologisches Verständnis entwickelt, um das Unaushaltbare auszuhalten, ohne es einfach erklären zu wollen. Sie denke etwa an die Hiobsgeschichte und an die Leidensgeschichte Jesu. «Hoffen können, ohne alles verstehen zu müssen», das sei ein Weg, Leid zu begegnen. 

«Man braucht Menschen, die es aushalten, wenn man alles infrage stellt.»

Was Sterbende wünschen

Damit trifft Heither offenbar die Wünsche Betroffener. Der wichtigste betrifft den sozialen Aspekt: «Ich möchte nicht alleine sterben», zeigt eine Studie von 2007 auf. Der zweithäufigste Wunsch bezieht sich auf das körperliche Befinden und lautet: «Ich möchte ohne Schmerzen sterben.» Dies schliesst die Hoffnung ein, ohne körperliche Belastungen, aber auch ohne Entstellungen und geistige Störungen sterben zu dürfen. Der dritte Wunsch bezieht sich auf die psychische Dimension und lautet: «Ich möchte Dinge noch zu Ende bringen dürfen.» Es geht darum, genügend Zeit zu haben, um «letzte Dinge» noch regeln zu können, Beziehungen zu klären, um schliesslich loslassen zu können. Wichtig ist auch die Hoffnung, dem Sinn des eigenen Lebens und Sterbens nachgehen zu können. Man braucht Menschen, die es aushalten, wenn man alles infrage stellt.

 

Text | Fotos: Reinhold Meier, Journalist und Pfarrer, Wangs  – Kirchenbote SG, November 2019

 

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