Der Suizid der Mutter ist eine Wunde, mit der Renata immer leben wird
Renata sass am Flughafen in Istanbul, Hunderte Kilometer von Zuhause entfernt, als sie vom Tod ihrer Mutter erfuhr. Die Kantonspolizei informierte sie per Telefon: ein Suizid. Es geschah nur wenige Tage nach dem Tod ihres Vaters. Dieser war an den Folgen einer Coronainfektion gestorben. Der Suizid war eine Entscheidung, die ihre Mutter nach langem Leiden mit psychischen Erkrankungen traf. Das war vor fünf Jahren.
Schmerz ist schwer zu beschreiben
Es folgte eine intensive Zeit mit vielen traurigen und einsamen Momenten, doch es gab auch Augenblicke von Wärme und Nähe. «Nie lagen Freude und Leid so nahe beieinander», sagt sie heute. Es war ein Schmerz, der schwierig zu beschreiben ist. Einerseits war da der Verlust des Vaters, der noch hier wäre, wenn er die Wahl gehabt hätte. Andererseits war der Suizid der Mutter. «Sie hat sich entschieden, die Welt und auch mich zu verlassen, das verstand ich lange nicht», erzählt Renata.
Den Menschen, mit denen ich darüber sprechen konnte, fühle ich mich seither noch mehr verbunden.
Der Umgang mit dem Suizid war auch für Renatas Umfeld eine Herausforderung. Die Familie wuchs in dieser Zeit näher zusammen, aber einige Bekannte ausserhalb der Familie mieden das Gespräch. «Es gab Momente, in denen ich das Gefühl hatte, dass ich sie an die Hand nehmen muss. Eigentlich absurd: Ich machte mir Gedanken darüber, wie ich niemanden damit triggere», erzählt sie. Aber so zu tun, als wäre nichts, helfe niemandem. «Doch ich wollte niemanden schockieren.»
Sie freute sich darüber, wenn jemand auf sie zukam und fragte, ob sie ein paar Dinge über den Tod ihrer Mutter erzählen möchte. «Ich finde es besser, man fragt einmal mehr und steht zur eigenen Unsicherheit. Viele haben Angst, etwas Falsches zu sagen», sagt Renata. Eine Tragödie müsse ja niemand kommentieren, dafür fehlen oft die Worte. Doch Hilfe anzubieten sei nie verkehrt. «Den Menschen, mit denen ich darüber sprechen konnte, fühle ich mich seither noch enger verbunden.»
Es wird nicht wieder wie früher
Renata begann eine Therapie und besuchte eine Selbsthilfegruppe. «Ich dachte mir: Mehr ist mehr – ich probiere alles. Ich bin ja nirgends gezwungen, es durchzuziehen.» Vor allem die Selbsthilfegruppe sei eine wertvolle Erfahrung gewesen, erzählt sie: «Da konnte ich alles ungeschönt erzählen und niemanden damit schockieren.» Darüber zu reden hatte für eine Zeit lang einen fixen Platz im Alltag. Dank der Gruppe merkte sie, dass sie bis zu einem gewissen Punkt selbst beeinflussen kann, wie es ihr geht. «Ich realisierte, dass ich es verdient habe, ein schönes Leben zu führen und dass ein schönes Leben möglich ist.»
Wenn ich mich an meine Eltern erinnere, denke ich an die Momente, die damals unwichtig und klein schienen
Doch irgendwann war die Therapie fertig und die Selbsthilfegruppe löste sich wieder auf. Nun fehlte der regelmässige Austausch. «Es war quasi plötzlich alles wieder Normalität. Doch Normalität würde für mich bedeuten, dass alles wieder so wäre wie früher. Und das wird es nie wieder sein.» Der Suizid ist für die ganze Familie eine Wunde, die nie verheilt. Eine, mit der sie für immer leben wird.
Unscheinbare Momente sind wichtig
Heute ist Renata selbst Mutter. Mit ihrem Sohn schaut sie gerne ein Bild seiner verstorbenen Grosseltern an. Der Kleine gleicht seinem Grossvater enorm, und die beiden tragen auch den gleichen Namen. Diese kleinen Rituale helfen, die Erinnerungen zu wahren und der Trauer Raum zu geben. «Wenn ich mich an meine Eltern erinnere, denke ich an die Momente, die damals unwichtig und klein schienen», sagt Renata. An die Autofahrten nach Konstanz, bei denen sie gemeinsam gesungen haben. Oder an die stundenlangen Gespräche mit der Mutter in der Küche, wo sie jeweils gemeinsam geraucht haben. Die Wunde trägt Renata immer noch mit sich, doch sie sagt: «Wer das Leben geniessen kann, sollte das tun. Und ich bin dankbar dafür, dass ich es kann.»
*Name geändert
Hilfe bei Suizidgedanken
Jugendliche: Tel. 147, www.147.ch
Erwachsene: Tel. 143, www.143.ch
Verein Trauernetz: Tel. 079 270 10 10
www.trauernetz.ch
Der Suizid der Mutter ist eine Wunde, mit der Renata immer leben wird