News aus dem Kanton St. Gallen

Die Kirchen und der Suizid

von Stefan Degen
min
24.10.2025
Jahrhundertelang wurden Menschen, die sich das Leben nahmen, durch die Kirchen geächtet. Das hat sich heute geändert. Erstaunlicherweise geht die Bibel selbst offen mit dem Thema um, ohne zu werten.

Jeden Tag nehmen sich in der Schweiz im Schnitt zwei bis drei Menschen das Leben. Jeder einzelne Fall ist tragisch. Für den Betroffenen selbst – ein Leben, das oft in Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit endet. Aber auch für sein Umfeld: Schätzungen zufolge sind von einem Suizid sechs bis über hundert Menschen mitbetroffen: Angehörige, Freunde und Arbeitskolleginnen, aber auch Rettungskräfte und unbeteiligte Zeugen. Hinzu kommt, dass das Thema mit einem Stigma behaftet ist. Hinterbliebene berichten, dass sie nach dem Verlust von Bekannten gemieden werden – wohl aus Überforderung, weil diese nicht wissen, wie sie mit der Situation umgehen sollen.

Papst hielt Suizid für Todsünde

Auch wurden Menschen, die sich das Leben nahmen, durch die Kirche jahrhundertelang geächtet. Eine Haltung, die auf den Kirchenvater Augustinus zurückgeht: Zu Beginn des 5. Jh. n. Chr. schrieb er in seinem Hauptwerk «De Civitate Dei», dass niemand freiwillig in den Tod gehen dürfe. Er begründete dies mit dem Gebot: «Du sollst nicht töten.»

In der Schweiz wurde den entwürdigenden Bestattungsformen in der Bundesverfassung von 1874 ein Riegel geschoben.

Rund 400 Jahre später bezeichnete Papst Nikolaus I. den Suizid als Todsünde. Dem widersprach im 16. Jh. der Reformator Martin Luther. Er unterschied zwischen der Tat, die er für Teufelswerk hielt, und der Person, welche die Tat beging: «Ich teile nicht die Meinung, dass Selbstmörder sicher verdammt sind», sagte er in seinen Tischreden.

Ein würdiges Begräbnis verweigert

Doch auch in der Neuzeit hielt die Stigmatisierung von Suizidanten an. Sie erhielten kein Grab auf dem Friedhof und wurden oft auf entwürdigende Weise bestattet, durch ein sogenanntes «Eselsbegräbnis» – besonders, wenn sie sich durch Suizid der Todesstrafe entzogen hatten. Diese Praxis hielt teilweise bis ins 19. Jh. an, auch in traditionell protestantischen Gebieten. In der Schweiz wurde den entwürdigenden Bestattungsformen in der Bundesverfassung von 1874 ein Riegel geschoben. Sie schrieb den Behörden vor, dafür zu sorgen, «dass jeder Verstorbene schicklich beerdigt werden kann».

Bibel urteilt nicht

Aller gesellschaftlichen Ächtung zum Trotz geht die Bibel selbst erstaunlich wertfrei mit dem Thema um. Sie berichtet von Menschen mit Suizidgedanken und von Menschen, die sich das Leben nehmen. Wie König Saul zum Beispiel, der sich ins Schwert stürzte, als seine Situation ausweglos geworden war. Oder wie der königliche Berater Achitofel, der sich erhängte, als er seinen Einfluss verloren hatte. Die Bibel verzichtet dabei weitgehend auf eine Wertung; Suizid wird weder verdammt noch heroisiert – er wird einfach zur Kenntnis genommen. Selbst von Judas, der sich – nach Matthäus – das Leben nahm, nachdem er Jesus verraten hatte, berichtet das Evangelium mit Ruhe und Sachlichkeit, ohne eine moralische Verurteilung auszusprechen.

Mit wem nach einem Suizidversuch gesprochen wird

Erhebung aus dem Jahr 2022. Quelle: Bundesamt für Statistik / Schweizerisches Gesundheitsobservatorium


Erhebung aus dem Jahr 2022. Quelle: Bundesamt für Statistik / Schweizerisches Gesundheitsobservatorium


Die Zeiten, wo Suizidanten ein kirchliches Begräbnis verweigert wurde, sind heute vorbei. Auch in der katholischen Kirche. Franz Kreissl, Leiter Pastoralamt Bistum St. Gallen: «Für die katholische Kirche ist es heute selbstverständlich, dass Menschen, die Suizid begangen haben, ein kirchliches Begräbnis erhalten. Im Gegenteil, wir versuchen in diesem Moment die Hinterbliebenen besonders zu unterstützen.» Ähnlich tönt es bei den Reformierten: «Als Pfarrer gehört es zu meinen Aufgaben, mit Angehörigen von Menschen Abschied zu nehmen, die sich umgebracht haben», sagt Uwe Habenicht, Beauftragter für Pastorales der Kantonalkirche und Pfarrer in St. Gallen. «Lange und intensive Gespräche vor und oft auch noch lange nach den Abdankungen prägen diese Begegnungen.» Er sei sehr froh, dass er als reformierter Pfarrer solche Begegnungen ohne Wertung und urteilsfrei gestalten könne, sagt Habenicht.

Im Zweifelsfall ansprechen

Die Landeskirchen fördern heute Präventionsangebote wie die Dargebotene Hand oder auch Trauergruppen. Denn das Thema zu tabuisieren ist wenig hilfreich. Im Gegenteil: Es ist wichtig, gefährdete Menschen anzusprechen. «Fragen nach vermuteten Suizidgedanken führen weder zu einer Verstärkung derselben noch wird hierdurch Suizidalität überhaupt erst ausgelöst», sagte Suizidforscher Lasse Sander von der Universität Freiburg gegenüber Science Media Center. «Wenn Sie sich Sorgen um eine Person machen, ist es hilfreich, diese Person konkret auf mögliche Suizidgedanken anzusprechen.»

Hilfe bei Suizidgedanken

Jugendliche: Tel. 147, www.147.ch
Erwachsene: Tel. 143, www.143.ch

Verein Trauernetz: Tel. 079 270 10 10
www.trauernetz.ch

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