News aus dem Kanton St. Gallen
Schicksal der Verdingkinder

Ein Stück Gerechtigkeit

von Tilmann Zuber
min
06.11.2023
Der Multimillionär Guido Fluri kehrte in das Tal zurück, in dem er bitterarm aufwuchs. Auf der Kanzel in Balsthal erklärte er, warum er sich für die ehemaligen Verding- und Heimkinder einsetzt.

Das idyllisch gelegene Balsthal hat viel zu bieten: wildromantische Natur, steile Jurahügel und einen Naturpark. Doch wie viele Orte in der Schweiz birgt das Tal ein dunkles Kapitel, das erst in den letzten zwanzig Jahren aufgearbeitet wurde: das Schicksal der Verding- und Heimkinder. Im Gottesdienst liess Pfarrer Jürg von Niederhäusern ehemalige Betroffene zu Wort kommen.

Das Stigma der Sünde

Guido Fluri kennt viele solcher Schicksale. Auch aus eigener Erfahrung. Heute gehört der Unternehmer zu den 300 reichsten Schweizern. Doch Fluris Kindheit war von bitterer Armut geprägt, erzählt er in Balsthal. Als uneheliches Kind in Olten geboren, wuchs er in Thal auf. Das Geld reichte nirgends, im Lebensmittelladen musste die Familie anschreiben lassen. Als seine Mutter an Schizophrenie erkrankte, wurde er an verschiedenen Orten untergebracht, unter anderem im berüchtigten Kinderheim Mümliswil. Schliesslich nahm die Grossmutter Guido bei sich auf. «Erst im Umgang mit anderen zeigt der Mensch seine wahre Persönlichkeit, im Guten wie im Schlechten», sagt Guido Fluri. Von einigen wurde man gesellschaftlich ausgegrenzt, vor allem, wenn man aus einer unehelichen Beziehung mit dem Stigma der Sünde stammte. Die von der Kanzel gepredigte Liebe habe er selten erlebt. Man begegnete Kindern in Not mit Härte. «Du kannst nichts, du bist nichts, aus dir wird nichts!», wurde uns ständig eingetrichtert.

Schuld tragen auch diejenigen, die weggeschaut haben.

Viele leiden bis heute

Guido Fluri machte später eine steile Karriere in der Immobilienbranche. Doch seine Kindheit hat er nie vergessen. In den Sechziger- und den Siebzigerjahren wurden in der Schweiz viele Menschen ausgegrenzt. Das bereitete den Boden für das Verdingwesen, in dem Kinder als billige Arbeitssklaven missbraucht wurden. Die Kinder konnten sich nicht gegen die systematische Versklavung und Fremdbestimmung wehren. Viele konnten keine Ausbildung machen und leiden bis heute unter dem Trauma ihrer Kindheit. «Schuld tragen auch diejenigen, die weggeschaut haben, Nachbarn, Lehrer, Behörden und Pfarrer», sagt Fluri. Er wollte sich nicht abfinden und den Verdingkindern ihre Würde und ein Stück Gerechtigkeit zurückgeben. Fluri beschloss, aktiv zu werden, das Thema musste an die Öffentlichkeit. Er liess die Geschichte der Verding- und Heimkinder wissenschaftlich aufarbeiten. Als Guido Fluri 2014 in einer schlaflosen Nacht darüber nachdachte, beschloss er, die Wiedergutmachungsinitiative zu lancieren. «Die historische Gerechtigkeit musste wiederhergestellt werden, nicht nur für die Betroffenen, sondern für die Schweiz als Ganzes.» Fluri ist überzeugt, dass ihm der Heilige Geist die Kraft und die Weisheit zu diesem Schritt gegeben hat.

Die Volksinitiative wurde angenommen. Heute sei das Wort «verdingt» ein Begriff, den man kenne, sagt Guido Fluri. «Die Überlebenden wissen, dass sie sich ihres Schicksals nicht mehr schämen müssen, dass sie keine Schuld tragen für das, was ihnen angetan wurde.

Papst bat um Vergebung

Guido Fluri hat den Glauben nie ganz verloren, das habe er auch Papst Franziskus in einer Privataudienz mitgeteilt. Der Papst bat um Vergebung für die Kinder, die unter den Taten der katholischen Kirche gelitten haben. Fluri ist überzeugt, dass eine Gemeinschaft, die sich zu den Werten Jesu Christi bekennt, die Gesellschaft verbessern und voranbringen kann. Nach den Werten Jesu zu leben, bedeute, die Augen zu öffnen für diejenigen, die am Rande der Gesellschaft leben und ihr Leid sehen.

 

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