News aus dem Kanton St. Gallen

Hat Gott in der Politik ausgedient?

von Katharina Meier
min
28.12.2024
Politische Gruppierungen beschwören oft die christlichen Werte. Gehören sie zum guten Ton? Als Mitglied der Evangelischen Volkspartei verneint dies der Theologiestudent Thierry Thurnheer aus Wil klar.

Doch, so der 28-Jährige, gebe es sehr wohl Parteien, die aus den Stimmungen im Volk heraus sich plötzlich auf ihre christliche Herkunft besännen und daraus Kapital schlagen wollten. «Für die EVP, die mittlerweile als einzige Partei ihren christlichen Hintergrund im Namen trägt, sind die christlichen Werte Programm und Fundament.» Für Thurnheer selbst sei dies in erster Linie die Nächstenliebe. «Sie hat uns Jesu gelehrt.» Umgemünzt auf die politische Ebene, nehme sich seine Partei der Schwächsten an. Die EVP werde denn auch eher im Mitte-Links-Spektrum angesiedelt. Der Theologiestudent prüft jede Vorlage auf den Wert der Nächstenliebe: «Wer kommt bei einem Ja am meisten unter die Räder? Hilft den Schwächsten ein Ja oder ein Nein?»

Bösartigkeit im Wahlkampf

Doch der christliche Wert der Nächstenliebe müsse nicht nur inhaltlich Gradmesser sein, sondern auch in der Art und Weise, wie politisiert werde. «Die Bösartigkeit gegenüber andern Gruppierungen, das Zielen auf Personen und nicht auf die Sache bekommt immer mehr Überhand.»

Ich fände es schade, wenn die Präambel in der Verfassung wegfiele, aber die Schweiz würde deswegen nicht zusammenbrechen.

Auch beobachte er in der Schweiz einen schleichenden Verlust an Mitmenschlichkeit: «Egoismus hält Einzug. Viele sind auf ihren eigenen Vorteil bedacht. Die Frage, ob uns eine Vorlage gesamtgesellschaftlich weiterbringt oder den Schwachen stärkt, wird kaum mehr gestellt.» Doch gibt es konkrete Beispiele, bei dem ein EVP-Vorstoss von einem christlichen Wert motiviert war, den Schwachen zu helfen? Thierry Thurnheer führt die Motion des Zürcher EVP-Nationalrats Niklaus Gugger, ins Feld. Er beauftragte den Bundesrat, eine gesetzliche Grundlage zu schaffen, dass Whistleblower keine rechtlichen Konsequenzen befürchten müssen. «Leider wurde die Motion sehr knapp abgelehnt (87 zu 98, bei 4 Enthaltungen), obwohl sie ‹moralisch› rechtmässig wäre», so Thurnheer.

Das Bild der christlichen Schweiz hat Risse.

Und so gebe es in der Schweizer Politik immer mehr Tendenzen, wo die christlichen Grundwerte untergraben würden. Bei der Konzernverantwortungsinititative, welche auch der Schöpfung zugute gekommen wäre und am Ständemehr scheiterte, aber auch bei der im November unterbreiteten Mietrechtsvorlage (Untermiete) entscheide oft das Geld und die Einkommen. «Dies ist nicht so christlich, wenn ich die Lebensweise von Jesu betrachte.» Auch der stetige Anstieg der Krankenkasse sei für Ärmere eine immer grössere Hürde und die Ergänzungsleistungen würden am falschen Ort abgebaut. 

Präambel streichen?

Im Gegensatz zu andern Ländern wie in Amerika verschwindet die Religion in der Schweiz immer mehr aus dem politischen Leben, die Säkularisierung schreitet voran. Dabei wankt auch die Präambel in der Bundesverfassung, die sich auf Gott den Allmächtigen beruft. «Es wäre schade, wenn sie wegfallen würde, aber die Schweiz würde deswegen nicht zusammenbrechen.» Der Staat brauche diese Präambel nicht unbedingt, doch es sei schön, dass sie die Wurzeln der Schweiz aufzeige. Im Übrigen, so Thurheer, könne die Präambel auch interreligiös verstanden werden. Er mache denn auch nicht nur Politik für Christinnen und Christen, sondern für die ganze Bevölkerung. Und zu den Schwächsten gehörten auch Geflüchtete und Angehörige anderer Religionen. Das Bild der christlichen Schweiz habe Risse. Muslime, Atheisten und Konfessionslose bildeteten denn auch einen grossen Teil der Bevölkerung ab, so Thurnheer. «Sie können nicht ingnoriert werden.» Käme einst die Abstimmung, ob der Islam als Staatskirche anerkannt werden soll oder nicht, würde der Theologiestudent Ja antworten. «Doch ich habe Vorbehalte.» Es gelte, extremistische Strömungen zu verhindern. Dies könne auch mit der Kontrolle über die Ausbildung der Imame geschehen. Zudem habe der Islam die gleichen Probleme mit der Säkularisierung. «Wenige sind praktizierende Muslime.» Ihre Werte aber seien in den Grundzügen mit den christlichen vergleichbar. 

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