News aus dem Kanton St. Gallen

Menschliche Würde an den Grenzen schützen

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01.01.2016
In jedem Menschen das Bild Gottes zu sehen, ist tragendes Element in der Gefängnisseelsorge. Die Gottebenbildlichkeit des Menschen gehört zu den Fundamenten des christlichen Glaubens.

Wenn ich mit einem Bekannten darüber spreche, dass ich Gefängnisseelsorger bin, verfällt er oft in ungläubiges Staunen oder gleich in Schnapp­atmung: «Wie kannst Du bloss Vergewaltigern und Mördern vorurteilsfrei begegnen, als Christ!?» So weit könne die Nächstenliebe doch wohl nicht gehen. Solche Menschen hätten ihre Würde verspielt.

Dann bin ich immer froh, wenn ich einigermassen sicheren Boden unter den Füssen habe. Denn diese Frage kann der Auftakt zu dem sein, was man hierzulande so treffend eine «Kropfleerete» nennt. Ein theologisches Fundament ist dann von Vorteil, ein fester Grund also, dem Wortsinne nach. Sonst wirft mich das um.

Abstand gewinnen
Wie also lässt sich Seelsorge in diesem Grenz­bereich begründen? Wie geht das, sich im Knast unvoreingenommen zu begegnen und Würde zu respektieren? Mein Gegenüber in der Zelle will schliesslich nicht wissen, was ich über die ­Würde weiss, sondern ob ich sie praktiziere.

Das fällt zuweilen schwer. Mir hilft dabei aber eine alte theologische Denkfigur, jene von der Imago Dei, der Gottebenbildlichkeit. Sie ist mein Fundament, ein roter Faden biblischen Denkens und eine Zumutung zugleich.
Denn sie postuliert nicht einfach die Würde des Menschen als «Zweck an sich», sondern verankert sie in seinem metaphysischen Gegenüber, in Gott. Das rührt aus einer tiefen Erfahrung. Jeder kann innerlich aus sich heraustreten, etwa wenn er träumt, lacht, betet, meditiert oder eine Achtsamkeitsübung macht. Dann kann er sich mit geschlossenen Augen sehen, sich beobachten, wie er dasitzt und atmet. Der Person mit ihrem Leib und ihrem Hirn steht somit ihre Persönlichkeit gegenüber, die Psyche.

Dreifach kreativ
Diese Psyche wahrzunehmen und anzusprechen, ist der Grund aller Seelsorge. Im alten Ägypten ging man sogar noch einen Schritt weiter. Man entfaltete den naheliegenden Gedanken, dass die Seele ihrerseits ein Gegenüber hat: die Gottheit, die ihr das Leben einhaucht. So erkannten die Priester von Isis und Osiris im Pharao ein Abbild des Jenseits, eben seine Würde.

Es gehört zu den grossen religionsgeschichtlichen Revolutionen, dass die jüdische und die christliche Theologie dieses Modell demokratisiert hat. Schon im ersten Kapitel der Bibel wird die Gottebenbildlichkeit vom elitären König gelöst und auf alle übertragen: «Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn.»
In jedem Geschöpf vermittelt Gott also etwas, das ihm entspricht. Dabei hat sein schöpferisches Tun konkret drei Akzente. «Im Anfang schuf er.» Obwohl alles wüst und leer war. «Er sprach.» Obwohl Todesstille herrschte. «Und er schied.» Tag von Nacht, Himmel von Erde, Oben von Unten. Kurz: Gott fängt an, Gott redet an, Gott unterscheidet. Diese drei.

Bereit zu Sühne und Ausgleich?
Gottebenbildlichkeit beschreibt also eine Beziehung, keinen materiellen göttlichen Kern. Im Verhalten des Geschöpfs soll Schöpferisches aufleuchten, indem einer anfängt, anspricht und zu unterscheiden beginnt. Vor allem aber, indem er anfängt, mit DEM in Beziehung zu treten, der ihn so beziehungsfähig geschaffen hat.

Ob das eine Wahrheit ist, die aufleuchten darf, wenn ich einem Straftäter gegenübersitze? Dass er sich ansprechen lassen darf, auch im Namen des Opfers und dessen Leides? Dass ihm seine Würde darin bleibt, dass er trotz allem noch einmal anfangen darf? Dass er beginnen darf, zu unterscheiden, Gut und Böse zum Beispiel, Schicksal und Eigenverantwortung? Bereit zur Sühne, zu Ausgleich und Neubeginn.

«Ohne das Fundament der Imago Die könnte ich keinem Klienten unvoreingenommen begegnen und mit ihm lernen, die Tat vom Täter zu unterscheiden.»

Solch schöpferische Wahrheit ist ein Wagnis, wenn alles wüst und leer ist, wenn es totenstill und finster über einem Leben ist. Es ist kein Kinderspiel, einen Menschen dabei zu begleiten, sich kritisch von sich selbst zu distanzieren, im Gebet, in der Achtsamkeit, im Segen. Ohne das Fundament der Imago Dei könnte ich keinem ­Klienten unvoreingenommen begegnen und mit ihm lernen, die Tat vom Täter zu unterscheiden.

Das Kind liebhaben

Konkret versuche ich, im Gegenüber das Kind zu sehen, jenes Kind, das er einst von Gott her war. Dieses kleine Wesen, das doch leben wollte. Ich will mit ihm fragen, ob es heute leben will. Ob es neu leben will. Ob es beginnen will, sich selbst wahrzunehmen, wie es dasitzt und atmet und sich nach wohltuender Unterscheidung sehnt. Ob es spüren mag, wie es dabei frei wird. Und bussfertig.

Das grosse Schöpfungsepos der Bibel über das Wunder des Lebens endet übrigens sehr nüchtern mit einer menschlichen Straftat, dem
Brudermord von Kain und Abel. Nein. Es endet präzise damit, dass Gott dem Brudermörder ein Zeichen macht, damit niemand ihn erschlüge, der ihn fände. Das heisst wohl, die Würde des Menschen zu schützen: Sich nicht irre machen zu lassen an seiner Imago Dei. Nicht einmal als Schöpfer. Christliche Seelsorge hat diesem unglaublichen Schöpfungsimpuls zu folgen, in grosser Demut, aber präzise. 

 

Text: Reinhold Meier, Wangs | Foto: as  – Kirchenbote SG, Mai 2015

 

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