News aus dem Kanton St. Gallen

«Ich ass einen einzigen Apfel pro Tag»

min
21.01.2020
Mit fünfzehn Jahren hörte Barbara Berger auf zu essen. Bis sie vor dem Hungertod stand. Was hat sie damals bewogen, ihre Probleme in sich hineinzuhungern?

Es begann auf der Waage. Ich hatte in der Weihnachtszeit zwei Kilo zugenommen. Das machte mich stutzig: «Dass kann doch nicht sein, dass ich plötzlich zunehme!» Denn ich war immer dünn gewesen, verglichen mit meinen Kolleginnen. In Frauenheftchen las ich: «Du musst abnehmen, fit sein!» Da dachte ich: «Vielleicht sollte ich das auch?»

Hungern aus Befriedigung
Ich besorgte mir Bücher zur Ernährung, kam mit immer weniger Kalorien aus. Ich führte Tagebuch darüber, was ich ass: Hatte ich wenig gegessen, so war es ein Erfolg. Hatte ich zu viel gegessen, so hatte ich versagt. Ich wollte meinen Körper unter Kontrolle bringen. Anorexie ist eine Sucht, ein Strudel, der dich runterzieht. Du fühlst dich gut, wenn du es geschafft hast, nichts zu essen. Die grösste Befriedigung ist, wenn du auf der Waage stehst und die Zahl runtergeht. Alles andere ist belanglos.

Rebellion gegen die Eltern
Ich war immer ein sehr braves Mädchen gewesen. Die Anorexie war eine Rebellion gegen meine Eltern, mein Weg zur Selbstbestimmung. Es nervte mich, dass meine Mutter die Wäsche aus meinem Zimmer holte und aufräumte. Ich wollte alleine wohnen. Mit der Zeit hörte ich auf, mit der Familie zu essen. Ich ernährte mich nur noch von Gurken und Äpfeln, manchmal ass ich einen einzigen Apfel am Tag. Den Znüni, den mir meine Mutter mitgab, warf ich fort, da sie die Resten kontrollierte.

Alles drehte sich um mich
Die Mittagspausen verbrachte ich alleine, ohne etwas zu essen. Alles drehte sich nur noch um mich. Andere Menschen nahm ich gar nicht mehr wahr. Die wollten mir sowieso nur Essen aufschwatzen! Als sich Mitschülerinnen besorgt an meine Klassenlehrerin wandten, fasste ich das als Bestätigung auf: «Jetzt haben sie gemerkt, dass ich dünner, dass ich besser bin als sie.»

Kampf gegen den Körper
Mein Alltag war voller Regeln, von mir selbst aufgestellt. Ich liebte Regeln, ich war sehr ehrgeizig. Ich musste täglich zwei Stunden Geige üben, Sport machen, für die Schule lernen. So blieb für das Essen gar keine Zeit übrig. Dennoch dachte ich ständig daran. Ich hatte grossen Hunger, Magenknurren. Aber der Hunger war auch ein Glücksgefühl, eine Bestätigung meines starken Willens. Etwas zu essen war eine Niederlage im Kampf gegen meinen Körper. Ich wollte meinen Körper besiegen.

Magensonde oder sterben
Vor den Sommerferien schlug mir meine Mutter vor, in eine Klinik zu gehen. Ich hatte in fünf Monaten mehr als fünfzehn Kilo abgenommen und war körperlich völlig am Ende. Ich war froh, von zu Hause wegzukommen, der Kontrolle meiner Mutter zu entfliehen, obschon sie mir am Schluss viele Freiheiten liess. Die Klinik war für mich ein neues Zuhause. Zu Beginn waren meine Blutwerte noch in Ordnung. Obwohl ich auf der geschlossenen Abteilung war, liess man mir viele Freiheiten, kontrollierte mein Essen nicht. Aber ich schaffte es nicht, aus eigener Kraft mein Essverhalten zu ändern. Ich nahm noch mehr ab und die Blutwerte wurden lebensbedrohlich. Da hat mir die Ärztin gesagt: «Entweder du bleibst und nimmst die Magensonde, oder wir entlassen dich aus der Klinik. Dann stirbst du.» Das war der Wendepunkt. Ich merkte: «Ich will leben, aber selber schaffe ich es nicht.»

Das erste Schinkensandwich
Sechs Wochen lang hatte ich die Magensonde. Ich musste nun gar nicht mehr ans Essen denken. Das war eine Riesenerleichterung. Ich erinnere mich gut an das erste Essen nach der Magensonde. Meine Tante besuchte mich und nahm mich auf einen Ausflug mit. Ich hatte enorm Lust auf ein Schinkensandwich. Sie bestellte mir eines. Ich merkte: «Jetzt schaffe ich es wieder, zu essen.» 

Essen, essen, essen!
Vor Weihnachten konnte ich die Klinik verlassen. Zu Hause bekam ich aber regelrechte Fressattacken. Ich verlor völlig die Kontrolle über mich und konnte locker zwei Tafeln Schokolade und eine Guetzlipackung in mich reinstopfen. Danach war mir kotzübel und ich fühlte mich schuldig. Erbrochen habe ich aber nie. Ich habe es mit dem Finger versucht, aber ich habe es nicht geschafft. Mein ganzes Taschengeld ging für Süssigkeiten drauf. Ständig war in meinem Kopf: Essen, essen, essen! Das lief alles versteckt ab. 

Freude über dicken Bauch
Erst mit fünfundzwanzig hörten die Essattacken ganz auf. Ich hatte meine Ausbildung zur Physiotherapeutin abgeschlossen. Der Stress war weg. Und ich lernte meinen Mann kennen. Vor ihm wollte ich mich nicht verstecken. Wirklich geheilt bin ich seit meiner Schwangerschaft: Zum ersten Mal konnte ich akzeptieren, dass mein Bauch dicker wurde. Ja, ich hatte gar Freude daran. Heute hüte ich mich vor krassen Essensregeln. Ich koche gerne gesund, geniesse das Essen. 

Eine Perfektionistin bin ich immer noch, aber nicht mehr so ehrgeizig und diszipliniert wie früher. Ich bin fauler geworden. Das finde ich gut so. 

 

Aufgezeichnet von und Foto: Stefan Degen  – Kirchenbote SG, Februar 2020

 

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