Jeder Engel war mal ein Glasröhrchen
Heutzutage kommen Engel nicht vom Himmel, sondern per Seefracht aus China. Zumindest ein Grossteil der Deko-Engel, die in Schaufenstern und Stuben Weihnachtsstimmung verbreiten sollen. Laut Statistikportal Statista stammen knapp drei Viertel des über 20 000 Tonnen in Deutschland verkauften Weihnachtsschmuckes aus China. In der Schweiz dürfte der Anteil ähnlich hoch sein.
Sucht man Alternativen, so landet man in St. Gallen rasch in der Galerie Lüchinger. Filigraner Weihnachtsschmuck aus Glas, Zinn und Holz ziert Wände und Schaufenster. Krippenfiguren, Kugeln, «Chläuse» – aber auch ausgefallener Christbaumschmuck: ein Postauto, eine verzierte Bratwurst, eine Vadianfigur. Und jede Menge Engel.
Engel ist nicht gleich Engel
«Engel sind immer gefragt», weiss Carmela Lüchinger, die das Geschäft seit zwölf Jahren führt. Doch Engel sei nicht gleich Engel. «Die meisten Leute suchen niedliche, herzige Engelchen.» Sie persönlich bevorzuge aber grosse, selbstbewusste Engel. «Der Engel wirkt dann beschützend – bei den niedlichen hat man fast das Gefühl, man müsse sie beschützen und nicht umgekehrt.»
Gut gehütete Geheimnisse
Die Engel der Galerie Lüchinger stammen aus Manufakturen in Osteuropa, Deutschland und dem Südtirol. Dort wird alte, ausgefeilte Handwerkstradition gepflegt. Die Branche ist verschwiegen, Betriebsgeheimnisse gibt man ungern preis. Doch Lüchinger, gelernte Vergolderin, weiss, wie Glasengel entstehen:
«Zuerst wird die Form modelliert», erklärt sie. Davon werde ein Negativ abgenommen, eine zweiteilige Form, «wie bei den ‹Schoggi›-Osterhasen». Das Negativ war früher aus Gips. Heute ist es ein Aluminiumguss. «Damit werden schärfere Konturen möglich», erläutert Lüchinger, «alte Gipsformen sind nicht so klar in der Struktur.» Ins Aluminiumnegativ wird schliesslich der Engel geblasen – jeder Engel war mal ein Glasröhrchen – und von innen versilbert. Danach werden die Engel von Hand bemalt, «Strich für Strich, Tupf für Tupf – ein tolles Handwerk!», schwärmt Lüchinger.
Christbaumschmuck hat sich über die Jahrhunderte verändert. Bis zur Biedermeierzeit hängten die Leute Essbares an den Baum: Äpfel, Birnen, Nüsse. Dann sind sie zunächst im norddeutschen Raum allmählich nachgeahmt worden aus Zinn, Glas, Pappe oder Blech. Und neue Motive kamen auf: Vögel, Pilze, «Chläuse», Tannzapfen, Strohsterne – und eben auch Engel.
Geschäft trotzt Pandemie
Das Geschäft mit dem Weihnachtsschmuck brummt bis heute und hat auch unter der Pandemie kaum gelitten. Im Gegenteil: Letztes Jahr habe das Weihnachtsgeschäft früher eingesetzt als sonst, stellt Carmela Lüchinger fest. «Manche befürchteten wohl, dass die Läden vor Weihnachten geschlossen werden, und wollten sich vorher eindecken.» Der Trend setze sich dieses Jahr fort. Gerade wenn wegen der Pandemie vieles nicht mehr möglich sei, freue man sich umso mehr an schönem, handgefertigtem Weihnachtsschmuck zu Hause.
Text | Foto: Stefan Degen – Kirchenbote SG, Dezember 2021
Jeder Engel war mal ein Glasröhrchen