News aus dem Kanton St. Gallen

Stellvertretendes Leiden

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01.01.2016
Steckt im Leiden einen Sinn?

«Dieser Mensch wuchs auf wie ein Keimling vor Gott … ohne Ansehen und ohne Ausstrahlung, auf die wir geachtet hätten, da war kein Anblick, der uns gefallen hätte. Verachtet und von Menschen gemieden, voller Schmerzen, vertraut mit Krankheit, … so verschmäht war er, wir achteten diese Gestalt nicht. Doch in Wahrheit trug sie unsere Krankheiten.»

Jes. 53, 2.3.4a

Mir gefällt, dass die Forschung nicht genau weiss, wer mit den Gottesknechtliedern des Deuterojesaja gemeint ist. Ist es eine Kollektiv­grösse, das Volk Israel? Der Prophet selbst? Ein unbekannter Mensch? Ist der leidende Messias gemeint?

Klar ist: Gott ist auf der Seite des leidenden Gottesknechtes – wider allen Augenschein, wider alle, die behaupten, Gott sei nur auf Seiten der Erfolg-Reichen, Gesunden und Starken. Und so haben Christen später Jesu stellvertretendes Leiden mit diesem Text gedeutet, seine radikale Hingabe an die Bitte: «Dein Wille geschehe».
Gerade weil der Gottesknecht keine historische Person ist, sind wir aufgerufen, ihn in Leidenden zu entdecken, in ihnen Christus zu sehen.

Ein Sinn im Leiden?

Durch Hingabe kann Leiden transformiert und ihm ein Sinn abgerungen werden. Nicht indem man es verklärt oder rechtfertigt, nicht in einer Opfermentalität, die von andern – namentlich Frauen – verlangt, lieber zu leiden, anstatt ­Unrecht die Stirn zu bieten, sondern in einer «unbedingten Liebe zur Wirklichkeit», ohne den Wunsch nach ihrer Veränderung aufzugeben, wie Dorothee Sölle in «Leiden» schreibt. Es ist eine Erfahrung, die auch Viktor Frankl gemacht hat, der die Schoah (Holocaust) überlebte. Seinem Leiden einen Sinn abzuringen, war die Kraft, die es ihm ermöglichte, das Grauen zu überleben!
In meiner Arbeit begegnen mir immer wieder Gottesknechte, Frauen und Männer. Es sind Menschen, denen es gelingt, mit schwersten Schicksalen umzugehen, die mitten im eigenen Leiden sich verbunden wissen mit andern Leidenden, die ihrem Leiden einen Sinn abringen, Angehörige, die in liebevollster Hingabe einfach da sind. Ich habe grosse Hochachtung vor ihnen.

Auferstehung im Leben und Sterben
So erinnere ich mich an einen Mann, dem nach seiner Krebsdiagnose unerwartet wenig Lebenszeit übrig blieb. Es war spürbar, dass er schwer getragen hatte in seinem Leben, das er in ziemlich grosser Einsamkeit verbracht hatte. Sein Leben hat sich in seinen letzten Lebenswochen so eindrücklich verdichtet, dass er plötzlich Verbundenheit erfuhr, Versöhnung erlebte mit dem Gewesenen und vor allen Dingen mit sich selbst, sodass aus dem verfallenden Körper spürbar ein anderes Licht zu leuchten begann. Ich sah Christus in ihm und sagte ihm dies auch. Seine letzten Worte an mich berührten mich tief: «Ich bin ein solcher Glückspilz.» Diese Auferstehungskraft, mitten im Sterben, die Kraft der Liebe als ein ­unbedingtes Ja zu dem, was ist, das ist die Kraft des Gottesknechtes, die Ohn-Macht der Liebe ­Jesu am Kreuz.

Zum Glück muss man nicht sterbend sein, um solche Erfahrungen zu machen. Es genügt die Absicht, sich einzuschwingen auf diese radikale Liebe zur Wirklichkeit, die eine so stark wandelnde Macht hat, dass sie Auferstehungskräfte freisetzt. 

Text: Annette Spitzenberg, Spitalseelsorgerin, St.Gallen | Foto: as  – Kirchenbote SG, April 2015

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