News aus dem Kanton St. Gallen

Wo ist Gott im Sterben?

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21.10.2019
Gott ist da. Auch im Leiden und Sterben. Dieser Ansicht ist Spitalseelsorger Henning Hüsemann. Im Interview erläutert er, was der christliche Glaube im Angesicht des Todes zu sagen hat.

Herr Hüsemann, wie kann ich mich auf meinen Tod vorbereiten?
Henning Hüsemann: Erstens: Durch eine Vollmacht und eine Patientenverfügung. So können Sie bestimmen, wie weit man Sie medizinisch behandeln soll und ab wann nicht mehr. Zweitens: Ich glaube, dass es eine Perspektive über das Sterben hinaus gibt, dass das Sterben nur ein Übergang ist. Es gibt Hoffnungsbilder aus unserem Glauben, aus der Bibel. Ich meine nicht die Bilder vom Jüngsten Gericht, von Himmel und Hölle – so beschreibt es die Bibel nicht. Die Bibel ist da eher keusch, sie macht nur Andeutungen. Aber je mehr ich mich mit diesen Andeutungen beschäftige, desto mehr werden sie für mich zu Hoffnungsbildern.

«Gott sagt: ‹Du kriegst mich nicht weg. Egal, was du machst, Mensch.›»

Können Sie Beispiele solcher Hoffnungsbilder nennen?
Hüsemann: Verschiedene Stellen in der Bibel reden davon, dass Gott etwas neu macht und dass Gott mir entgegenkommt. Wir haben Angst, dass wir ins Nichts fallen, wenn wir sterben. Aber die Bibel sagt: Da ist jemand, der mich hält. Und dann werden da keine schrillen Töne mehr sein, wie Paulus es schön beschreibt, sondern die Engel werden die Trompeten blasen. Das ist ein Bild für Wohlklang: Da ist nicht mehr das Gepiepse auf der Intensivstation, das nervige Handy-klingeln, das Donnern von Waffen, der Lärm unserer Welt.

Wenn der Tod nur ein Übergang ist, bin ich nach dem Sterben dann noch die gleiche Person?
Hüsemann: Nein, Sie sind ja Ihrer Körperlichkeit entledigt. Aber es bleibt etwas «Personhaftes». Gott hat uns als Gegenüber geschaffen, keine wabernde Masse. Er will Beziehung. Und die beiden Emmaus-Jünger erkennen Jesus nicht an körperlichen Merkmalen wie der Nase oder den Haaren. Sie erkennen ihn im Brotbrechen. An seinen «Personenmerkmalen».

«Tod bedeutet Abbruch, Ende, Aus.»

In welchem Zusammenhang stehen diese Hoffnungsbilder mit der Geschichte von der Auferweckung Christi?
Hüsemann: Die Auferweckung Christi steht in einem anderen Zusammenhang: Die Auferweckung ist das Nein Gottes gegen den Tod, den wir veranstalten. Wir Menschen können uns mit denjenigen identifizieren, die Gott nicht in dieser Welt haben wollen. Am Karfreitag waren das die Pharisäer, die Sadduzzäer, die römische Besatzungsmacht – also die gesellschaftlichen Autoritäten. Sie haben sich schwer getan damit, dass da einer sagt: «In mir begegnet euch Gott, und er begegnet euch einfach so.» Das geht nicht, das stellt Autoritäten infrage. Deshalb haben sie ihn aus der Welt ans Kreuz gehauen. Gott aber sagt durch die Auferweckung: «Ihr könnt mich nicht aus der Welt hauen.» Wir kriegen ihn einfach nicht tot. Gott sagt: «Du kriegst mich nicht weg. Egal, was du machst, Mensch.»

Spült man den Tod nicht weich, wenn man ihn bloss als Übergang betrachtet?
Hüsemann: Wir müssen zwischen Sterben und Tod unterscheiden. Sterben ist schwer. Diesen Schritt muss jeder für sich gehen. Das Loslassen fällt nicht leicht.

Beim Tod gibt es in der Kirche eine lange Geschichte von Missverständnissen. Der Tod war verbunden mit dem Thema Gericht. Das hiess dann: Daumen hoch oder Daumen runter, Himmel oder Hölle. Paulus redet ganz anders. Er sagt: «Alle Knie werden sich beugen vor Christus.» Das bedeutet: Ich werde neu ausgerichtet. Das ist Gericht. Ich kann mich nie wieder abwenden von Gott.

«Ich singe auch oft am Krankenbett. Das hört man manchmal bis auf den Flur.»

Auf der anderen Seite: Den Tod gibt es schon. Auf dieser Welt, im Hier und Jetzt: Tod in unseren Beziehungen, Tod in unserer Gesellschaft. Tod bedeutet Abbruch, Ende, Aus. Tod ist der Abbruch von Beziehungen. Sterben bedeutet für mich: hinübergehen in eine andere Welt. Wenn ich mich einübe in die Beziehung mit Gott, dann hoffe ich, dass diese Beziehung mich auch im Sterben trägt.

Soll man so leben, dass man das eigene Sterben bereits im Blick hat?
Hüsemann: Ja. Der Theologe Thomas von Kempen hat mal in Anlehnung an Mark Aurel gesagt: «Lebe so, wie du am Ende gewünscht hättest zu leben.»

Woher soll ich jetzt schon wissen, wie ich am Ende gewünscht hätte zu leben?
Hüsemann: Dazu gibt es eine «einfache Aufgabe». Verfass’ mal einen Nachruf auf dich! So, wie du möchtest, dass die Menschen, die dir lieb sind, ihn verfassen sollten. Und dann schau, dass du so lebst! Das umzusetzen ist schwierig. Ich scheitere immer wieder. Deswegen ist es für Sterbende so wichtig, Gnade zu spüren. Und Versöhnung.

Erleben Sie oft Versöhnung am Sterbebett?
Hüsemann: Immer wieder. Manchmal muss ich auch etwas nachhelfen. Dann rufe ich Angehörige an und sage deutlich: «Jetzt aber: Hierhin!» Nur manchmal geht das auch nicht. Niemand muss versöhnt sterben.

Gibt es Rituale, die beim Sterben helfen?
Hüsemann: Ja. Katholiken nennen es «die Letzte Ölung». Wir Reformierten sprechen von «Krankensegnung» oder «Krankensalbung». Der Ursprung ist biblisch. «Ist jemand unter euch krank, so rufe er die Ältesten der Gemeinde zu sich. Die sollen ihn im Namen des Herrn mit Öl salben und über ihm beten» (Jak 5,14). Ich beziehe häufig Angehörige mit ein.

Ich habe einmal einen Mann begleitet, der hat seine Frau nicht mehr berührt, seit sie an Krebs erkrankt war. Als es auf das Sterben zuging, habe ich ihn eingeladen, ihr einen Segen zuzusprechen. Er hat ihr mit ausgestrecktem Arm und nach hinten gebeugtem Oberkörper – ganz hastig – ein Kreuz auf die Stirn gemacht und die Hand sogleich zurückgezogen. Dann ist er rausgerannt und hat nur noch geweint. Aber: Danach war Berührung wieder möglich.

Ich singe auch oft am Krankenbett. Das hört man manchmal bis auf den Flur. Hin und wieder feiere ich mit Sterbenden Abendmahl. Und auch die Beichte ist wichtig: loswerden, was mir auf dem Herzen liegt. Luther hat die Beichte einmal das «halbe Sakrament» genannt.

«Ich bin geliebt. Egal, was für einen Scheiss ich in meinem Leben gemacht habe.»

Wichtig ist auch der Zuspruch von Vergebung. Nach Paulus kann nichts und niemand mich von der Liebe Gottes trennen. Nicht mal ich selbst schaffe das. Wie wichtig es für manche Menschen ist, das nochmals zu hören: Ich bleibe ein geliebtes Wesen. Egal, was für einen Scheiss ich in meinem Leben gemacht habe.

Kann Sterben schön sein?
Hüsemann: Sterben hat etwas Heiliges, finde ich. Wenn ein Mensch stirbt und ich bin der Einzige im Zimmer, dann klingele ich nicht sofort. Dann warte ich zehn oder zwanzig Minuten. Ich erlebe Sterben häufig als etwas Friedliches, wenn es nicht von äusserer Gewalt wie einem Unfall begleitet ist. Da tut sich der Himmel auf, da ist ein Stück Gegenwart Gottes. Ich kann das nicht anders beschreiben.

Aber Leid gehört auch zum Sterben?
Hüsemann: Ja. Wenn jemand daliegt, in die Luft greift und nach Halt sucht. Ich mache Angehörigen dann immer wieder Mut: «Nehmen Sie die Hand. Wenn die sterbende Person loslässt, dann lassen Sie auch wieder los.» Wenn Menschen weinen, obschon sie schon lange nicht mehr ansprechbar sind. Loslassen kann leidtun.

«Sterben hat etwas Heiliges. Da tut sich der Himmel auf, da ist Gegenwart Gottes.»

Wo ist Gott im Sterben?
Hüsemann: Gott hat in der jüdischen Tradition einen Namen: JHWH. Das heisst: «Ich bin da.» Und wenn ich glaube, dass Gott das Leben geschaffen hat – nicht in sieben Tagen, so ist der Schöpfungsbericht auch gar nicht gemeint – aber wenn ich glaube, dass er Anfang und Ende umfängt, dann ist Gott auch da, wenn ich sterbe. Das ist für mich ganz wichtig. Es stirbt niemand allein. Man kann sehr einsam sterben, aber nicht allein. Ob ich dann den Mund so voll nehme, wenn es bei mir so weit ist, weiss ich nicht. Aber ich hoffe, dass Menschen mir dann stellvertretend etwas von Gottes Dasein mit ihrer Nähe zeigen. Deswegen empfinde ich es als Privileg, wenn ich Menschen beim Sterben begleiten darf. Nicht, weil ich wichtig bin, sondern weil vielleicht etwas durchscheinen kann von Gottes Dasein.

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