News aus dem Kanton St. Gallen

Liebe trotz allem

von Felix Reich, reformiert.info
min
21.09.2022
Der Film «Drii Winter» von Michael Koch spielt in einem Urner Bergdorf. Er erzählt vom Verstummen und dem Trotz der Liebe.

Die erste Einstellung zeigt einen Felsbrocken. Er liegt am Abgrund, durch das Tal schlängelt sich eine spärlich befahrene Strasse. Langsam ziehen vom Talboden aufsteigende Nebelfetzen am Stein vorbei.

Stumm wie ein Stein auch Marco (Simon Wisler). Der Flachländer ist fremd im Dorf. Er packt auf der Alp an, rammt Zaunpfähle in den harten Boden und verliebt sich in Anna (Michèle Brand). Sie ist alleinerziehende Mutter, arbeitet in der Dorfbeiz und verteilt die Post. Vor ihr kann Marco seine Verletzlichkeit eingestehen. Er erträgt es kaum, die Rinder zur Schlachtbank zu bringen. Im Stall scheint er sich wohler zu fühlen als unter Menschen, freier.

Bereits während der verliebten Motorradfahrt bleibt das Glück fragil. Und ans Ende der Erzählung von der Hochzeit mit Gottesdienst und Tanz in der Wirtschaft setzt Regisseur Michael Koch eine Einstellung, in der Marco allein aus dem Hinterausgang in Richtung Bergbach wankt. Der Bräutigam kotzt, über der jungen Liebe liegt früh ein Schatten.

Die Beziehung verdunkelt sich, als bei Marco ein Hirntumor entdeckt wird. Die Krankheit beschleunigt Marcos Rückzug. Zuerst hat er nur einzelne Aussetzer, Abwesenheiten mitten im Leben. Später führt die Krankheit zum Kontrollverlust. Marco kann seine Triebe nicht mehr kontrollieren, er ist dem Stier plötzlich näher, als ihm lieb ist, und droht zu zerstören, was er liebt. Nicht einmal die kleine Stieftochter, die ihn vertrauensvoll «Daddy» nennt, vermag er vor dem dunklen Sog in sich selbst zu schützen.

Michael Koch setzt konsequent auf einen langsamen Rhythmus. Es gibt wenige Schnitte und sparsam eingesetzte Worte. Oft wird aus der Perspektive der handelnden Personen gefilmt, so dass nicht gezeigt wird, was passiert, sondern wie wenig von den Worten und Gesten beim Gegenüber ankommt. Die Tragik der Erzählung liegt auch im ständig drohenden Verlust der Sprachfähigkeit, der Unmöglichkeit, sich zu verstehen.

Wie in der griechischen Tragödie lässt Koch wiederholt einen Chor auftreten. Als Kommentare fungieren dann Kirchenlieder von Johann Sebastian Bach. Der Chor wird konsequent in der Totale gefilmt, aufgereiht vor der schroffen Felswand. Er gliedert den Film in der Tradition des Theaters in fünf Akte.

Ähnlich wie im antiken Drama erscheint auch das Schicksal, das Fatum, unabwendbar. Ein Tumor treibt Marco zuerst in die innere Isolation und dann in die Einsamkeit einer Alphütte, in der es im harten Winter schon bald nach Tod riecht. Anna kämpft aller Rückschläge und Verletzungen zum Trotz um ihre Liebe. Und vielleicht erweist sich diese verzweifelte, trotzige Liebe gar als stärker als der Tod, während der Nebel der Krankheit den Felsbrocken endgültig verschluckt und der Stein dem Abgrund entgegen rollt.

Mit «Drii Winter» hat der in Berlin lebende Schweizer Regisseur Michael Koch ein ebenso berührendes wie bedrückendes Drama geschaffen. Lange 60 Drehtage hat er dafür mit Laiendarstellerinnen und Laiendarstellern gearbeitet. Seine kraftvollen Bilder prägen sich ein. Sie fangen die Majestät der Natur und zugleich die Unbeholfenheit menschlicher Kommunikation ein. Und sie sind definitiv grosses Kino.

Felix Reich, reformiert.info

«Drii Winter». Regie: Michael Koch, 137 min, Frenetic 2021.

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