News aus dem Kanton St. Gallen
Generationen im Pfarramt

«Kirche ist keine Partei, aber sie muss Partei ergreifen»

von Tilmann Zuber
min
03.09.2025
Pfarrer Arnold Steiner kommt bald ins Pensionsalter, Tochter Barbara hat gerade im Pfarramt angefangen. Vater und Tochter über die Bedeutung des Pfarrberufs und was Kirche zu sagen hat. 

Arnold Steiner, hätten Sie Ihrer Tochter zum Theologiestudium geraten?

Arnold: Ja, sie wollte Pfarrerin werden, und ich fand es richtig, dass sie Theologie studiert. Das ist die beste Vorbereitung für diesen Beruf.

Auch in einer Zeit, in der der Kirche ein rauer Wind entgegenweht?

Arnold: Ich freue mich sehr, dass sie Pfarrerin wurde. Sie hat Talent für diesen Beruf und wird darin ihre Erfüllung finden.

Kann man den Pfarrberuf heute noch empfehlen?

Arnold: Unbedingt.

Barbara Steiner, was hat Sie dazu bewogen, Pfarrerin zu werden?

Barbara: Ich habe lange überlegt, was ich werden möchte. Ich mag Menschen und finde sie faszinierend. Ich wollte für andere da sein. In der Kirche habe ich mich immer wohl und zu Hause gefühlt. Dieses Gefühl möchte ich weitergeben.

War Ihr Vater ein Vorbild?

Barbara: Erst als ich sicher war, dass ich Pfarrerin werden will, habe ich es ihm gesagt. Da wurde mir bewusst, dass ich denselben Weg einschlage wie er. Natürlich bin ich im Pfarrhaus aufgewachsen und wusste, was dieser Beruf bedeutet. Und ich wusste, dass man ihn gut ausüben kann. 

Arnold Steiner, Sie haben vor über 30 Jahren Ihr Vikariat gemacht. Wie hat sich die Kirche seitdem verändert?

Arnold: Meine erste Pfarrstelle war im Elsass. Dort lernte ich eine Kirche in einem anderen Land und Umfeld kennen. Im Einzelpfarramt habe ich alles gemacht: Kirchenleitung, Basar, Jugendgruppe, Bibelstunde, Seniorenausflug. Heute in Wildberg habe ich eine halbe Stelle mit deutlich weniger Aufgaben. Dafür habe ich noch eine Teilzeitstelle in der Spezialseelsorge. Diese wurde in den letzten Jahren ausgebaut.

Haben sich auch die Kirchenmitglieder in den letzten Jahrzehnten verändert?

Arnold: Ja, früher war die religiöse Bildung stärker. Heute fehlt oft das Grundwissen. Meine Konfirmanden antworten im Unterricht auf die Frage, wer die zwölf waren, die mit Jesus am Tisch sassen, mit «Moses?» oder «Noah?».

Was blieb über die Jahre konstant?

Arnold: Die Gottesdienste, die Seelsorge und die spirituellen Aufgaben der Pfarrerinnen und Pfarrer.

 

«Die Kirche ist in den Hintergrund gerückt. Das ist nicht nur schlecht, denn es erlaubt uns, uns auf die Menschen zu konzentrieren, die wirklich kommen wollen.» Barbara Steiner, Pfarrerin in Meggen-Adligenswil-Udligenswil LU | Foto: Susanne Seiler

«Die Kirche ist in den Hintergrund gerückt. Das ist nicht nur schlecht, denn es erlaubt uns, uns auf die Menschen zu konzentrieren, die wirklich kommen wollen.» Barbara Steiner, Pfarrerin in Meggen-Adligenswil-Udligenswil LU | Foto: Susanne Seiler

 

Die Kirche befindet sich im Umbruch: weniger Mitglieder, weniger Trauungen und Taufen, weniger Geld. Warum?

Arnold: Unsere Konsumgesellschaft beeinflusst uns ständig. Sie sagt uns, was wir kaufen, tun oder wie wir unsere Ferien verbringen sollen. Als ich aufwuchs, eroberte der Fernseher die Wohnzimmer. Wir hatten keinen, und ich bin freier aufgewachsen, weniger von Medien geprägt. Die Kirche, die auf persönliche Begegnung und das gesprochene Wort setzt, bleibt da oft aussen vor.

Barbara: Die Kirche ist heute eines von vielen Angeboten. Unsere Konfirmanden haben neben der Schule noch Sport, Musik und anderes. Die Kirche hat da wenig Priorität. Sie ist in den Hintergrund gerückt. Das ist nicht nur schlecht, denn es erlaubt uns, uns auf die Menschen zu konzentrieren, die wirklich kommen wollen. Im Konfirmandenunterricht habe ich jetzt Jugendliche, die gerne dabei sind. Das hat seinen Wert.

Reagiert die Kirche gut auf diesen Rückzug in der Gesellschaft?

Arnold: Nein, sie ist zu schwach. In der medialisierten Welt ist sie kaum präsent. Früher war der Kirchenbesuch Pflicht. Heute ist er freiwillig, auch wenn manche noch ein schlechtes Gewissen haben, wenn sie nicht kommen. Die patriarchale, staatliche Pfarrerfigur verschwindet langsam. «Ich versuche, moralische Belehrungen zu vermeiden, die kommen schlecht an. Aber wenn wir nichts Relevantes mehr zu sagen haben, verflacht die Botschaft. In dieser Spannung stehen wir heute.

Barbara: Die Kirche hat Angst, sich zu positionieren und eine klare Meinung zu äussern. Sie will allen gefallen und verliert dadurch an Profil.

Sollte die Kirche politischer werden?

Arnold: Parteipolitisch nicht. Die Kirche hat eine seelsorgerliche und spirituelle Aufgabe. Sie sollte durch ihre spirituelle Ausstrahlung wirken.

Barbara: Aber die Kirche muss für die Menschen einstehen. Wenn Politik Menschen diskriminiert oder ausgrenzt, darf die Kirche nicht schweigen. Sie muss die Würde des Menschen verteidigen. Die Kirche ist keine Partei, aber sie muss Partei ergreifen.

Thomas Schaufelberger, Leiter Aus- und Weiterbildung Pfarrschaft, sagte kürzlich, man müsse sich von den «goldenen Jahren» der 1970er verabschieden. Sollte die Kirche Altes loslassen, um Neues zu wagen?

Barbara: Wir sollten Neues ausprobieren, aber nicht alles Alte verwerfen. Wenn ein klassischer Gottesdienst gefragt ist, halte ich ihn. Aber ich organisiere auch eine Silent Disco an der «Langen Nacht der Kirchen». Die Kirche bietet viele Formen, die Menschen in ihrer Lebenssituation auffangen können.

Arnold: Die Zeit der Volkskirche ist vorbei. Unsere Aufgabe ist es, uns als Gemeinde neu zu sammeln – um Gott, den dreieinigen Gott Vater, Sohn und Heiligen Geist.

Auch wenn die Volkskirche endet, bleiben die Erwartungen ans Pfarramt hoch. Man ruft den Pfarrer oder die Pfarrerin auch um 20 Uhr an.

Arnold: Das liegt nicht an der Volkskirche, sondern daran, dass der Pfarrer ein vorindustrieller Beruf ist. Wie der Bauer immer Bauer ist, bin ich immer Pfarrer. Ich unterscheide zwischen Arbeits- und Ruhezeit, nicht zwischen Arbeits- und Freizeit.

Barbara: Natürlich dürfen Pfarrerinnen nicht ins Burnout geraten. Aber die Haltung «Ich bin da, wenn man mich braucht» ist zentral. Das unterscheidet uns von anderen Berufen.

Im Zeitalter von Mobilität, Digitalisierung und Konsum hat die Kirche einen schweren Stand. Zukunftsforscher sagen aber, sie könnte an den Bruchstellen der Gesellschaft wirken, etwa bei Einsamkeit.

Arnold: Das stimmt. Krisen öffnen Menschen für Gott und das Evangelium. Jesus hat sich um die Kranken und Ausgegrenzten gekümmert. Jesus sagte: «Wenn man die Reichen zum Festmahl einlädt, dann haben sie keine Zeit. Deshalb laden wir die Kranken, Bettler und Lahmen zum Festmahl ein.» Es gehört zur DNA der Kirche, dass wir auf jene achten, die am Rande der Gesellschaft leben und sich in einer Krise befinden. Und nicht auf die Megatrends und die Mächtigen.

Barbara: Die Kirche bleibt ein Ort, zu dem man zurückkehren kann. Das sage ich auch meinen Konfirmanden: «Egal, was passiert: Die Kirche ist für euch da.»

Arnold: Unsere Aufgabe ist es, diesen Ort zu erhalten. Wenn wir Gottesdienste aufgeben, weil zu wenige kommen, wohin sollen die Menschen dann gehen?

Barbara: Deshalb ist der Sonntagsgottesdienst wichtig. Manche kommen nur einmal, aber genau dann brauchen sie diesen Gottesdienst.

Wie wichtig ist der Glaube für die Menschen?

Arnold: Ich bin noch Seelsorger im Bundesasylzentrum Zürich. Dort erlebe ich, wie wichtig Religion für die Menschen ist. Wenn ich sage: «Ich bin da zum Zuhören, Beraten und Beten», leuchten ihre Augen. Das Gebet ist dort zentral, ganz anders als in unserer Gesellschaft. Die Megatrends sind Trends der Marktforschung, aber nicht von jenen, die am Rande der Gesellschaft stehen und sich nichts leisten können.

 

«Ich versuche, moralische Belehrungen zu vermeiden, die kommen schlecht an. Aber wenn wir nichts Relevantes mehr zu sagen haben, verflacht die Botschaft.» Arnold Steiner, Pfarrer in Wildberg ZH | Foto: Susanne Seiler

«Ich versuche, moralische Belehrungen zu vermeiden, die kommen schlecht an. Aber wenn wir nichts Relevantes mehr zu sagen haben, verflacht die Botschaft.» Arnold Steiner, Pfarrer in Wildberg ZH | Foto: Susanne Seiler

 

Was ist das Schöne am Pfarrberuf?

Barbara: Die Vielfalt und die Nähe zu den Menschen. Besonders in Momenten, die zählen, wie bei Beerdigungen, an denen die Menschen für die Unterstützung der Kirche dankbar sind.

Arnold: Ich bin dankbar, dass mein Beruf sinnvoll ist. Ich arbeite für etwas Gutes, nicht für eine Firma, die die Natur zerstört oder Menschen ausnutzt. Für mich ist Pfarrer eine Berufung.

Barbara: Dieses Gefühl der Berufung kenne ich auch.

Arnold Steiner, Sie waren vor dem Pfarramt ­Delegierter des Roten Kreuzes. War das auch eine Berufung?

Arnold: Ja. In den von Israel besetzten Gebieten und in Burundi und Ruanda habe ich mich mit Not und Verzweiflung auseinandergesetzt. Diese Zeit hatte einen Sinn auf meinem geistlichen Weg. Ich erlebte da etwas zutiefst Menschliches. Dort habe ich entdeckt, dass die Hoffnung auf Gottes Reich selbst in ausweglosen Situationen trägt. Das Reich von Gott geht über das hinaus, was in unserer Welt möglich ist.

Gab es Momente des Zweifels?

Arnold: 1991, nach einem halben Jahr in den besetzten Gebieten, erkannte ich, dass ich in einem Krieg war, der seit 30 Jahren andauerte und noch lange dauern würde. Das löste eine Krise aus. Doch das Gleichnis vom barmherzigen Samariter, das ganz tief in mir verwurzelt ist, gab mir Halt. Es zeigt, dass unsere Aufgabe nicht vom Erfolg abhängt. Im «Unser Vater» gibt es die Bitte, «dein Reich komme, dein Wille geschehe, wie im Himmel so auf Erden». Diese Bitte gibt mir Hoffnung, denn sie geht über das hinaus, was in der Realpolitik möglich ist.

Barbara, haben Sie als Frau eine andere Rolle im Pfarramt?

Barbara: Nein, ich spüre da keinen Unterschied.

Was ist ein Pfarrer oder eine Pfarrerin: Seelsorger, Prediger, Motivator, Erwachsenenbildner?

Barbara: Jeder Tag bringt neue Aufgaben. Ich bin einfach für die Menschen da und arbeite mit ihnen am Reich Gottes.

Arnold: Ein Bekannter fragte mich, wann ich mich am meisten als Pfarrer fühlen würde. Ich antwortete: Wenn ich in meinem Keller meditiere. Die Spiritualität ist die Mitte meines Berufes, von der aus sich alles ordnet. Die Spiritualität ist das Zentrale im Pfarrberuf.

Sollten andere Berufsgruppen wie Diakone, ­Katecheten oder Laien pfarramtliche Aufgaben übernehmen? Zurzeit wird dies ja diskutiert.

Arnold: Theologen sind unverzichtbar, damit die Kirche die Kirche Jesu Christi bleibt. Und zwar eine evangelische Kirche und eine Kirche des Wortes. Wenn wir die wichtige Funktion der Theologie verlieren, dann werden wir irgendetwas, aber wir sind nicht mehr die Kirche von Jesus Christus.

Dann bleibt Theologie zentral in der evangelisch-reformierten Kirche?

Arnold: Sie bleibt grundlegend. Die theologische Verantwortung ist auch eine kritische Funktion gegenüber dem Religiösen. Ohne sie droht vielleicht eine fundamentalistische Kirche. Das ist nicht heilvoll.

Barbara: Diakone und Katecheten leisten viel, aber es braucht Pfarrpersonen, die das Ganzen im Blick behalten.

Arnold:  Auf der anderen Seite sollte man Pfarrerinnen und Pfarrer nicht überbewerten. Für Hauskreise oder Gebetsgruppen braucht es keine Pfarrer. Und wenn Pfarrerinnen und Pfarrer fehlen, sollten Laien Gottesdienste übernehmen – mit guter Begleitung und Ausbildung.

Zum Schluss: Welchen Rat geben Sie Ihrer Tochter?

Arnold: Bleib du selbst. Ich bin dankbar, dass Barbara nicht nur Theologie studiert hat, sondern in Taizé tiefe spirituelle Erfahrungen sammeln konnte. Das hilft ihr, mit Freude im Beruf zu bestehen.

 

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