News aus dem Kanton St. Gallen
Fledermäuse

Teil 3: Auf Spurensuche im Kirchenschiff

von Andrea Kobler
min
01.07.2024
In der Schweiz gibt es zwölf Mischkolonien, in denen das Kleine Mausohr und das Grosse Mausohr zusammenleben. Zwei davon im Kanton St. Gallen — in Eichberg und Gams. Ein Besuch in der Wochenstube.

it lediglich zwölf Kolonien ist das Kleine Mausohr eines der seltensten Säugetiere in der Schweiz und stark gefährdet. Es lebt ausschliesslich in Mischkolonien mit der etwas grösseren Geschwisterart, dem Grossen Mausohr, mit einer Flügelspannweite von 40 Zentimetern und einem Gewicht von 25 Gramm eine der grössten Feldermäuse. Am ersten Juni-Samstag begab sich Fledermausfachmann René Güttinger zusammen mit Interessierten auf Spurensuche in den Estrich des Kirchenschiffs der katholischen Kirche St. Michael in Gams. In einem normalen Sommer würden hier nackt und ohne Fell die ersten Jungen an den Balken hängen. Doch die Balken sind leer. Nur der Kot am Boden weist darauf hin, dass erwachsene Mausohren in diesem Jahr schon einmal hier waren. Für rund 120 Weibchen bildet das Kirchenschiff jedes Jahr im Frühsommer die Wochenstube. Dicht gedrängt auf rund einem Quadratmeter hängen sie dann, Körper an Körper. Die Hälfte bis zwei Drittel der Weibchen gebären ein Junges per Steissgeburt. Voran ein riesiger Fuss, mit dem sich das Junge an einem Gegenstand festklammert. Die Mütter lassen das Kleine – auf der Jagd nach Futter – bereits in der ersten Nacht alleine. «Sie haben keine Lust, einen Balg, der rund ein Drittel so schwer ist wie sie selber, weiter herumzutragen», erzählt Güttinger.

Junge krabbeln am Pfosten hoch

Die Mausohren lieben den Giebel im Kirchenschiff der 156 Jahre alte exponierten Kirche. Der Dachstuhl erwärmt sich im Verhältnis zur Umgebung schnell und dank des Ziegeldachs bleibt die Wärme einige Zeit erhalten. Und sollte es zu heiss sein, haben die Tiere die Möglichkeit, sich weiter unten im Dachstuhl hinzuhängen. Ist es warm, halten es die Jungen hier auch einmal zwei bis drei Tage ohne Mutter aus. Kühlt der Dachstuhl allzu stark ab, dann fallen die Jungen auf den Boden und sterben. Sie aufzunehmen und zu zählen ist eine der Aufgaben von Mesmer Hans Lenherr. Lieber mag er, wenn 50 bis 60 kleine Geschöpfe piepsen, wenn er vom Turm Richtung Kirchenschiff läuft. Nach gut fünf Tagen öffnen die Mausohren die Augen. Sind sie zehn Tage alt, können sie die Körpertemperatur selber regulieren, lernen selber zu fliegen. Der rund 15×45 Meter grosse Dachstock ist ideal dafür. «Dennoch klatschen sie immer wieder einmal an einen Pfosten, fallen auf den Boden und krabbeln an den Pfosten wieder Richtung Dachstuhl – ein köstliches Bild», erzählt René Güttinger. Nach vier bis sechs Wochen sind die Neugeborenen so gross wie die Mutter und können selbstständig jagen.

Sie fliegt doch noch

«Wir haben uns bereits die ganze Woche darauf gefreut, die Lebensweise der Fledermäuse näher kennenzulernen und natürlich die Tiere zu sehen», erzählen Christian und Thomas Hänni, die an der Fledermaus-Exkursion von René Güttinger teilnehmen. Dass sie diese nun nicht selber gesehen haben, ist ein kleiner Wermutstropfen: «Dafür konnten wir unser Wissen erweitern.» Wissbegierig ist auch Stefan Bamert. Er hielt in der Schule einen Vortrag: «Danach fanden die Mitschülerinnen und -schüler die Fledermaus nicht mehr so gruselig.» Und das Wissen von Stefan erzählte sich schnell herum. So, dass er im letzten Sommer eine Fledermaus aus einem Essraum befreien durfte, die dort zuvor während dreier Tage hing. Die Exkursionsteilnehmenden wussten viel zu erzählen. Und dann, vor dem Nachhauseweg, flog doch noch eine Fledermaus an den Kirchenmauern vorbei. Es wird eine Zwergfledermaus gewesen sein, die meistverbreitete der 30 in der Schweiz nachgewiesenen Fledermausarten.

Fledermäuse in Kirchen des Kantons St. Gallen

Eine Grosszahl der 30 geschützten Fledermausarten der Schweiz hängen sich im Juni und Juli mit Vorliebe in alte Häuser und Kirchen. Dort finden sie einen idealen Lebensraum. In einer losen Folge beleuchtet der «Kirchenbote» diese treuen Kirchenmitglieder und streift dabei Themen wie Koexistenz im Kulturgut, Renovationen von Häusern und Kirchen sowie Betreuung und Zählung der Fledermäuse. Zudem stellt er besondere Kolonien im Kanton St. Gallen vor. Fachlich werden die Artikel vom Toggenburger Fotografen und Biologen René Güttinger begleitet. Er ist kantonaler Fledermausschutz-Beauftragter Appenzell–St. Gallen.

Unsere Empfehlungen

Teil 5: 375 Junge in der Kirche

Teil 5: 375 Junge in der Kirche

Die reformierte Kirche Eichberg erhält viel Nachwuchs. Rund tausend Fledermäuse hausen dort nun im Dachstock. Der «Kirchenbote» hat die jüngsten Kirchenbewohner Anfang Juli besucht, wenige Tage, nachdem sie auf die Welt gekommen sind.
Teil 4: Starren sie Löcher in die Wände?

Teil 4: Starren sie Löcher in die Wände?

Anni Kern und Agnes Schümperlin starren. Doch sie starren keine Löcher in die Wände, sondern auf Löcher in den Kirchenwänden. Denn aus den Giebelspitzöffnungen kommen die Fledermäuse des Nachts heraus, und diese gilt es akribisch zu zählen.
Teil 2: Doch der Kauz oder gar die Kälte?

Teil 2: Doch der Kauz oder gar die Kälte?

Da hängen sie nun. Ein Pulk kleiner Fleischbällchen mit Fell, zitternd, mit angelegten Ohren. Doch statt der erwarteten imposanten Kolonie der Grossen Mausohren haben bis jetzt nur wenige Langohren in der Kirche Oberglatt bei Flawil Einzug gehalten.
Teil 1: Weder Batman noch Graf Dracula

Teil 1: Weder Batman noch Graf Dracula

Er hat nichts mit Batman oder Graf Dracula zu tun. Aber Fledermäuse faszinieren René Güttinger. Seit über 40 Jahren kraxelt der Biologe die Leitern in den Kirchtürmen hoch, so wie dieses Frühjahr in Oberglatt bei Flawil SG.