Teil 5: 375 Junge in der Kirche
Da stehe ich nun, kurz nach Mitternacht, in einer fingerdicken Schicht aus Fledermauskot. Der Kopf ist geduckt. Wenige Zentimeter über mir hängen Dutzende Jungtiere in einem dichten Knäuel. Während ich mit einer Lampe krampfhaft die frisch geborenen Fledermäuse beleuchte, achte ich darauf, nicht auf eines der toten Jungtiere zu treten, die runter in den Kot gefallen sind. Hin und wieder flattert mir eine Fledermausmutter um die Ohren. Der warme, würzige Duft von Fledermauskot erinnert mich an Maggi.
Muttertiere flattern um die ohren
Eine Viertelstunde zuvor bin ich mit dem Fledermausexperten René Güttinger und seinem Sohn bei der reformierten Kirche in Eichberg im St. Galler Rheintal angekommen. Durch ein kleines Loch sind wir in den Dachstuhl gekraxelt und das Gebälk hochgeklettert, bis wir ein schmales Brett erreichten, von wo aus die Kleinen und Grossen Mausohren – die beiden Fledermausarten der Kolonie – zum Greifen nahe sind. Dann muss es schnell gehen: Während Güttingers Sohn und ich mit den Lampen die Fledermauskolonie ausleuchten, macht Güttinger innert weniger Sekunden seine Fotos. In mühsamer Arbeit wird er sie zu Hause auswerten und die einzelnen Jungtiere zählen – eine Aufgabe, die viel Erfahrung erfordert, da die Fledermäuse dicht zusammen im Pulk hängen. So erfasst Güttinger den Jungtierbestand einer der grössten Mausohrkolonien der Schweiz.
Wenige Tage zuvor sind die Jungtiere zur Welt gekommen. Wegen des nasskalten Frühsommers hatte sich die Geburt etwas verzögert. Schon in der ersten Nacht hängen die jungen Mausohren am bereits voll ausgebildeten Fuss kopfüber in einer grossen Traube. Ihre Mütter – Fledermausmütter sind alleinerziehend – sind am Jagen. Nur vereinzelte erwachsene Tiere sind dageblieben. «Kindergärtnerinnen» nennt sie René Güttinger.
Vorbildliche Renovation
Güttingers Herzensanliegen ist es, den Lebensraum dieser Säugetiere zu erhalten. Gefährdet seien sie bei Renovationen alter Scheunen, Bauernhäuser und Kirchen. «Hier in Eichberg hat man es vorbildlich gemacht», lobt Güttinger. Man habe den Dachstuhl während des Winterhalbjahres saniert, als die Jungtiere bereits ausgeflogen waren, und darauf geachtet, dass alle Eingänge bestehen blieben. Denn Fledermäuse können jahrzehntealt werden und haben ein gutes Gedächtnis. «Sie sind traditionsreiche Tiere. Die meisten jungen Weibchen kehren alljährlich zu ihrem Geburtsort zurück, um als Erwachsene dort ihre eigenen Jungen aufzuziehen. So wird indirekt über Jahrzehnte viel Wissen immer wieder an die nächste Generation weitergegeben.»
Einzigartiges Ortungssystem
Über 50 Millionen Jahre alt ist das älteste bekannte Fledermausfossil. «Es sieht einer heutigen Fledermaus zum Verwechseln ähnlich», sagt Güttinger. Fledermäuse sind neben Flughunden die einzigen Säugetiere, die aktiv fliegen können. Wie haben sie das gelernt? «Darüber weiss man wenig», sagt Güttinger. Es sei auch unklar, ob sie diese Fähigkeit gemeinsam mit den Flughunden entwickelt hätten oder ob das zwei unabhängige Entwicklungsstränge gewesen seien. «Beides ist denkbar.» Die hochkomplexe Echoorientierung, mit der die Fledermäuse mit den Ohren per Ultraschall «sehen» können, sei in der Tierwelt aber einzigartig.
500 Quadratkilometer Jagdgebiet
Zehn Minuten nach den Fotos im Dachstuhl stehen wir bereits wieder neben der Kirche. Wir leuchten mit der Taschenlampe zum Gebäude hinauf. Bei den Ein- und Ausgängen sieht man kleine Schatten herumflattern. Es sind Muttertiere, die zur Jagd ausfliegen: ins Appenzellerland, aber auch ins Vorarlbergische. Mehr als 500 Quadratkilometer umfasst das Jagdgebiet einer 300-köpfigen Kolonie, wie Güttinger aus früherer Forschung weiss. Bis zum Morgengrauen aber werden alle Muttertiere in den Dachstuhl der Kirche zurückkehren, wo sie auf zwei Quadratmeter zusammengepfercht ihre Jungen säugen.
Zwei Wochen nach dem mitternächtlichen Ausflug teilt Güttinger das Resultat der Zählung mit: 375 Jungtiere hat er auf den Bildern ausgemacht. «Bei einem Adultbestand von 683 ist das eine schöne Fortpflanzungsquote.»
Fledermäuse in Kirchen des Kantons St. Gallen
Eine Grosszahl der 30 geschĂĽtzten Fledermausarten der Schweiz hängen sich im Sommer in alte Häuser oder Kirchen. In einer losen Folge beleuchtet der «Kirchenbote» diese treuen «Kirchenmitglieder». Fachlich wird die Serie begleitet von RenĂ© GĂĽttinger, dem kantonalen Fledermausschutz-Beauftragten Appenzell-St. Gallen.Â
Teil 5: 375 Junge in der Kirche