News aus dem Kanton St. Gallen
Wahlherbst

Warum Religion bei den Wahlen eine Rolle spielt

von Delf Bucher / kirchenbote.ch
min
20.09.2023
Es klingt paradox: Trotz Bedeutungsverlust wirkt Religion immer noch in das politische Gefüge der Schweiz hinein. Vor allem die Fusion von BDP und CVP zur Mitte könnte im Wahlherbst einiges unter der Bundeskuppel verändern.

Religion und Politik – das scheint für die anstehenden nationalen Wahlen auf den ersten Blick keine Betrachtung wert. Nur die Kleinparteien EVP und EDU bringen mit dem E für «evangelisch» noch christliche Farben ist Spiel. Dagegen hat sich die einst so mächtige CVP vom C verabschiedet und zusammen mit der BDP zur Mitte fusioniert. Der Clou dabei: Erst wollte der nach der Wahlschlappe 2019 neu gewählte CVP-Präsident Gerhard Pfister mit einer Debatte um die christlich-abendländische Leitkultur bei der konservativen Wählerschaft punkten. Dann riss er das Steuer herum und gab die entgegengesetzte Richtung vor: «Die Wahrnehmung der CVP als katholische Partei ist zu einem Ausschlusskriterium geworden.»

Im Gegensatz zum Zwingli-Kanton Zürich hat sich dort vor allem im ländlichen Raum eine reformierte Prägung bis in die Gegenwart erhalten.

Reformiertes Refugium Bern

Mit einer bemerkenswerten These zeigt indes Politgeograf und Leiter des Forschungsinstituts Sotomo, Michael Hermann, dass sich ein geschärfter Blick auf die konfessionelle Herkunft der Wählerschaft lohnt. Gerade in der von der SVP abgespaltenen BDP im Kanton Bern findet sie eine Partnerin wieder, die nach Hermann im «erzreformierten» Milieu situiert und staatstragend-zentristisch wie die CVP selbst ist. Dass die Konfession hier durchaus eine Rolle spielt, zeigt nach Ansicht des Politgeografen auch eines: Der erste Anlauf zur Fusion von CVP und BDP sei vor allem aus konfessionellen Gründen gescheitert.

Warum aber soll sich nun ausgerechnet im Kanton Bern ein reformiertes Milieu konserviert haben? Hermanns Antwort: «Im Gegensatz zum Zwingli-Kanton Zürich hat sich dort vor allem im ländlichen Raum aufgrund der geringeren wirtschaftlichen Dynamik und wenig stark ausgeprägter Migrationsbewegungen eine reformierte Prägung bis in die Gegenwart erhalten.» 

So bietet die Fusion von CVP und BDP die Chance, neue Wählerschichten zu erreichen – nicht nur in Bern, sondern beispielsweise auch im Aargau, dem Schlüsselkanton im Kulturkampf des 19. Jahrhunderts. Hier könnte dank des interkonfessionellen Schulterschlusses die Mitte nicht nur im Freiamt reüssieren, sondern im eher reformierten Kantonsteil Stimmen dazugewinnen.

Neutrale Wertepartei

Iwan Rickenbacher, Polit- und Kommunikationsberater, sieht als ehemaliger CVP-Generalsekretär die neu formierte Partei auch vor den Wahlen gut aufgestellt. Entscheidend für ihn ist nicht so sehr der Spezialfall Bern, sondern die strategische Neuausrichtung der alten CVP als eine «entkonfessionalisierte Wertepartei». Rickenbacher erinnert daran, das bereits 1970 diskutiert wurde, sich des religiös einengenden Parteinamens zu entledigen. «Damals stand zur Diskussion, dass sich die Katholisch-Konservativen als Schweizerische Volkspartei neu aufstellen.»

Die traditionell-konservative Haltung in der Zentralschweiz war immer obrigkeitskeptisch.

Gegen Bern und Brüssel

Die Entwicklung verlief indes in die umgekehrte Richtung. Die bis dahin nur in reformierten Gebieten beheimatete SVP drang mit rascher Geschwindigkeit nach dem Nein zum EWR 1992 in die katholischen Stammlande ein. Mit gutem Gespür für die Befindlichkeit der Innerschweiz schlug der reformierte Pfarrerssohn Christoph Blocher eine Stimmgabel an, für dessen Tonlage die Urkantone besonders empfänglich waren: gegen «fremde Mächte» und «neuzeitliche Vögte», ob in Bern oder Brüssel. Ein Grundmotiv, dem die katholisch-konservative Wählerschaft der Innerschweiz seit der Gründung des Bundesstaates gefolgt ist. So stimmten die Sonderbundkantone bei jeder Abstimmung zur Verfassung mit Nein – von 1848 über die Revision von 1874 bis hin zur kleinen Teilrevision 1999. «Die traditionell-konservative Haltung in der Zentralschweiz war immer obrigkeitskeptisch.» Und mit Obrigkeit meinte man hier immer Bern.

«Das hat sich auch in der Hinwendung zur SVP fortgesetzt», sagt Rickenbacher. Für ihn war der rasche Wechsel von dem mehr als 150 Jahre dominierenden politischen Katholizismus in der Zentralschweiz hin zur SVP keine einschneidende Zäsur, sondern eine Fortschreibung dieser Tradition. So dominiert die SVP heute in der Innerschweiz alle Wahlen in die Legislative.

Ganz sind die Bindungskräfte des traditionellen Milieus dort nicht geschwunden. Im Wettbewerb gegenüber der FDP liegt sie immer noch klar vorn. Und neueste Prognosen des von Sotomo erstellten Wahlbarometers der SRG zeigen, dass die neu formierte Mitte nun auch schweizweit fast gleichauf mit der FDP liegt. Hermann schreibt deshalb in der «NZZ am Sonntag»: «Überholt die Mitte die FDP, dann wird es ungemütlich für die rechtsbürgerliche Vormacht von FDP und SVP im Bundesrat.» Ausgerechnet 175 Jahre nach dem Triumph des Freisinns im neu gegründeten Schweizer Bundesstaat könnte der zweite Bundesratssitz der FDP zur Disposition stehen und an den nun entkonfessionalisierten Sonderbundgegner von einst übergehen.

 

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