News aus dem Kanton St. Gallen

«Ich habe nie die Macht missbraucht»

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19.05.2020
Der Ausserrhoder alt Bundesrat Hans-Rudolf Merz spricht über Corona, Religion, Macht und Ohnmacht.

Herr Merz, wie geht es Ihnen?

Danke, bestens. Wissen Sie, ich bin schon mehr als vier Jahre in einer Art Quarantäne. Seit meine Frau verstorben ist, lebe ich allein. Da gewöhnt man sich an diese Lebensform. Wichtig ist für mich, dass ich in die Natur hinaus kann. Dagegen kann ich meine Opernleidenschaft leider nur noch sehr beschränkt ausleben. Ursprünglich wollte ich heute für «Schwanensee», «Bajazzo» und «Cavalleria Rusticana» im Royal Opera House nach London fliegen und Ende Juni für Verdis «Un ballo in maschera» nach Wien, wo einer meiner Söhne lebt – aber alles ist abgesagt. 

Was für anhaltende positive Effekte könnte die Corona-Pandemie Ihrer Meinung nach haben?

Verbesserungen sind sicher in vielen Bereichen möglich und nötig! In der Landesversorgung, im Verkehr, im Umgang mit Medikamenten und Sanitätsmaterial oder bei den Verhaltensregeln zur Verminderung der Ansteckungsgefahr. Nichts Revolutionäres, aber Evolutionäres. Pest und Cholera führten beispielsweise dazu, dass die mittelalterlichen Städte Abwasserkanäle bekamen. 

Das war die magistrale Antwort. Und was meint der Philosoph Hans-Rudolf Merz?

Ich vermute, dass sich das Verhalten der Menschen kaum verändern wird. Die Leute wollen ihre Lebensqualität zurück. Vielleicht ist man bereit, geringe Abstriche in Kauf zu nehmen, aber jeder weiss, dass sein Leben einmalig ist, und will sich deshalb nicht freiwillig einschränken. 

Man sagt, in Krisen schlage die Zeit der Exekutive. Wie haben Sie die Finanzkrise erlebt? 

Bei der UBS-Bankenrettung bewegte sich der potenzielle Schaden – 50 bis 60 Milliarden Franken – in einem ähnlichen Rahmen wie beim Coronavirus.

 

«Es reicht nicht, in die Kirche zu gehen.»

 

Im Unterschied zu damals, als vor allem der Fiskus betroffen war, muss momentan Notrecht angewendet werden, um jede und jeden in die Pflicht zu nehmen.

Waren Sie ein Politiker, der Extremsituationen liebte?

Als ich Bundesrat wurde, war die Zeit reif für jemanden, der sich intensiv um die Konsolidierung des Bundeshaushalts kümmerte. Diese Herausforderung habe ich gesucht und auch durchgestanden, obwohl man teils massiv über mich hergefallen ist. Vor allem die politische Linke warf mir vor, man würde den Staat zu Tode sparen. Heute sind wir froh, dass wir dem ständigen Wachstum der Ausgaben und der Steuerbelastung Grenzen gesetzt haben. Als ich 2010 zurücktrat, hatte die Schweiz 20 Milliarden Franken weniger Schulden. 

Wie sind Sie mit Ihrer Macht umgegangen?

Da wir glücklicherweise in einem Rechtsstaat mit einer klaren Gewaltenteilung leben, besitzt ein Bundesrat im Normalfall nur wenig Macht. Wobei der Begriff mit sehr unterschiedlichen Konnotationen verbunden ist. Einerseits mit Einfluss haben, Gewicht, Erfahrung und Sachkompetenz, anderseits mit Gewalt, Unterdrückung, Missbrauch. 

Wie lebte es sich mit den Erwartungen der FDP, der Lobbyisten und der Wählerschaft? 

Ich hatte immer ein gutes Gewissen. Es gab nicht einen einzigen Entscheid, bei dem ich den Eindruck hatte, dass ich oder jemand anders aus dem Gremium seine Macht missbraucht oder ethische Grundsätze verletzt hätte. Wir haben ja auch diverse Kontrollorgane. Interessanterweise hiess der GPK-Bericht «Das Verhalten des Bundesrates während der Finanzkrise».

 

«Alles braucht Kraft und Einsatz, nichts  passiert von selbst.»

 

Man schaute ausdrücklich, wie wir sie gemanagt haben, und stellte nicht die Frage, wer sie verursacht hat, welche Sauereien man bei den Banken mit den Subprime-Hypotheken gemacht hat. (lacht) Ich ärgere mich heute noch, dass die Verantwortlichen nie verurteilt wurden, sondern einfach von der Bildfläche verschwinden konnten. 

Die Politik spielte in Ihrem Leben eine wichtige Rolle – und die Religion? 

Bei dieser Frage erinnere ich mich gerne an die Besuche der Ausserrhoder Landsgemeinde. Der Landammann sagte zum Schluss immer: «Ich empfehle Land und Volk dem Machtschutze Gottes.» Das ist mir geblieben. Es hat bedeutet, dass wir hier unseren politischen Willen kundgetan haben, es aber noch Mächte gibt, die stärker sind als wir. In diesem Bewusstsein lese ich auch sehr gerne in der Bibel.

Welche Geschichte inspiriert Sie besonders?

Ein mehrfach verwendeter Segen im Hebräerbrief lautet: «Der Friede sei mit euch.» An einer anderen Stelle steht: «Jaget nach dem Frieden.» Es reicht nicht, in die Kirche zu gehen und zu denken, danach sei alles wieder in Ordnung. Nein, man muss den Frieden erjagen, in ganz verschiedenen Bereichen. Seit 1291 musste sich die Schweiz immer wieder verteidigen oder befreien. Man musste sich aber auch den sozialen Frieden erjagen, wie 1948 mit der Gründung der AHV. Alles braucht Kraft und Einsatz, nichts passiert von selbst. Neben dem militärischen und dem zivilen gibt es den religiösen Frieden. Bei dem herrscht weltweit der grösste Nachholbedarf.

Wie haben eigentlich die beiden Appenzell den religiösen Frieden erjagt?

Auf vorbildliche Art! Als nach der Reformation um Herisau eine protestantische Zelle entstand, hat man 1597 beschlossen, den Kanton zu teilen. Wer in den inneren Rhoden wohnte, gegen den Säntis zu, sollte katholisch sein, und wer in den äusseren Rhoden wohnte, in Richtung St. Gallen und Bodensee, protestantisch. Es gab sogar Bauern, die ihre Höfe getauscht haben. Und all das klappte, ohne einen Tropfen Blut zu vergiessen!

Gab es Situationen, in denen Sie gebetet haben, Gott möge Ihnen Kraft und Mut schenken?

Ich pflege regelmässig Gebete. Das sind keine Anrufungen, um gewisse Dinge oder Unterstützung herbeizuwünschen. Es geht eigentlich nur um die Verstärkung von Gedanken, wie sie alle Menschen haben. Wenn ich am Morgen erwache, gesund bin und das Wetter schön ist, kann ich mich in eine tiefe Dankbarkeit versenken, die Gebetscharakter hat. 

Wie haben Ihr Herz-Kreislauf-Stillstand und die schwere Erkrankung Ihrer Frau Ihren Glauben beeinflusst?

Meine Rettung hat bei mir weniger religiöse Gefühle als Bewunderung für den medizinischen Fortschritt ausgelöst. Als ich zum Vortrag eines Herzchirurgen eingeladen wurde, der meine Bypass-Operation anhand eines Videos erklärte, ist es mir schier schlecht geworden. Ich dachte: Da war ich eine offene Baustelle! Man hat meinem Körper an fünf Orten Sehnen entnommen und sie im Coronarbereich wieder eingepflanzt. Gleichzeitig hing ich an einer künstlichen Lunge, profitierte aber auch davon, dass ich sonst sehr fit war. Und es hat mir geholfen, es wieder zu werden. Vor zwei Jahren habe ich sogar noch den Piz Bernina bestiegen – mit Bergführer und fünf Bypässen … (lacht)

Und mit 75 Jahren!

Ich mache im Engadin heute noch alle Besteigungen, Palü, Morteratsch, Kesch. Ich war immer Bergsteiger, früher auch Marathon- und Waffenläufer. Aber nichts war schwieriger und herausfordernder als die jahrelange Betreuung meiner Frau. Im Alten Testament steht nach der Erschaffung des Menschen: «Und Gott sah, dass es sehr gut war.» Nach der Alzheimererkrankung habe ich mich gefragt: Weshalb hat Gott den Menschen erschaffen, wenn er ihn dann so aus dem Leben reisst, wie das bei meiner Frau der Fall war? 

Haben Sie für sich eine Antwort gefunden?

Nein, ich glaube, die gibt es auch nicht. Bei meinem längeren Gespräch über die Theodizee mit der Pfarrerin, die bei der Abdankung die Predigt gehalten hat, sind wir zum gleichen Schluss gekommen: Man darf religiöse Zweifel haben, wenn man erlebt hat, wie es mit der eigenen Frau stetig abwärtsging und sie zum Schluss nicht einmal mehr ihren eigenen Ehemann erkannt hat.

Wie Hans-Rudolf Merz seinen Lachanfall vor dem Parlament erlebte, lesen Sie hier.

Interview: Reinhold Hönle, Journalist BR, Baden | Fotos: Keystone-sda , Gian Ehrenzeller und Peter Klauzner – Kirchenbote SG, Juni-Juli 2020

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