Der Löwe frisst Stroh
«Wolf und Lamm werden einträchtig weiden, und der Löwe wird Stroh fressen wie das Rind, und die Schlange – ihre Nahrung ist der Staub. Nirgendwo auf meinem heiligen Berg wird man Böses tun oder Zerstörendes, spricht der Herr.» (Jesaja 65,25)
Im Vers des Jesajabuches entsteht vor unseren Augen eine traumartige, neue Welt. Gott selbst träumt diesen Traum. In dieser Gottesrede sind die Gottesgedanken zugleich auch Traumgedanken. Geträumt wird, um es mit dem Refrain eines eingängigen Liedes zu sagen, dass «sich Himmel und Erde berühren». Friede und Gerechtigkeit sollen sich küssen. Und die Welt soll eines Tages ein himmlisches Antlitz bekommen.
Kollektiver Traum
Wie anschaulich, wie dynamisch diese Traumszenen sind! Wir sehen und hören direkt Wolf und Lamm friedlich nebeinander grasen – Wolf und Lamm, die im Normalfall Fressfeind und Beute sind. Der Löwe ist zum Vegetarier geworden. Er frisst Seite an Seite mit dem Rind. Auch von der Schlange geht keine Bedrohung mehr aus für Mensch und Tier. Und über allem steht ein umfassender Menschheitsfriede, der kollektive Traum einer Gesellschaft, die Bosheit und Zerstörung hinter sich gelassen hat.
Es könnte anders sein, als es ist. Es könnte besser sein.
Wie wäre es, sich als Menschheitsgemeinschaft diesen göttlichen Traum einer friedvollen und gerechten Welt zu eigen zu machen? Zu träumen von einer Gesellschaft, in der alle Menschen respektiert und gleichberechtigt sind? Von einer intakten Natur zu träumen, und von einer Welt ohne Waffen? Einer Welt, in der Frieden herrscht, in der die Menschen einander Sorge tragen?
Der Traumgedanke aus dem Jesajabuch führt uns in leidenschaftlich bewegten Bildern eine Zukunft vor Augen, die in hohem Masse lebenswert ist. Es sind Bilder einer Zukunft, auf die wir jetzt noch warten. Für die wir uns aber einsetzen sollten in der festen Überzeugung, dass sich der Einsatz lohnt.
Gott träumt den Traum einer lebenswerten Zukunft für die ganze Menschheitsgemeinde mit uns zusammen. Es könnte anders sein, als es ist. Es könnte besser sein, als es ist. Geben wir dem Traum Gottes Raum – in unserem persönlichen Leben, in unserer Kirche und auf der ganzen Welt.
Text: Ute Neef, Pfarrerin, Eichberg | Bild: Pixabay – Kirchenbote SG, Dezember 2020
Der Löwe frisst Stroh