Glauben ohne Wunder
Auf die Frage, ob er der Messias sei, antwortet Jesus: «Blinde sehen und Lahme gehen, Aussätzige werden rein und Taube hören, Tote stehen auf und Armen wird das Evangelium gepredigt; und selig ist, wer sich nicht an mir ärgert.» (Mt 11,5-6)
Ein «Ja» oder ein «Nein». Diese Antwort würde man auf die Frage erwarten, ob er der Messias sei. Doch eine explizite Antwort liefert Jesus nicht. Er verweist stattdessen auf seine Wundertätigkeit: auf Heilungen und Totenauferweckungen. Diese Wunder sind Beleg dafür, dass Gott ihn als Messias gesandt hat. Für die Zuhörer ist klar: In den Wundern zeigt sich Gott. Schliesslich sind die Menschen der Antike vertraut mit Wundergeschichten. Denn diese waren damals nicht nur in der Bibel gang und gäbe.
Kindisch und Naiv
Bei uns ist das heute anders. Wir haben detaillierten Einblick in biologische, physikalische und medizinische Zusammenhänge. Wir kennen die Zusammensetzung von Atomen. Wir erforschen die Welt der Quanten. Wir glauben zu wissen, was möglich ist und was nicht. Die biblischen Wunder erscheinen kindisch, naiv, wie Märchen oder Zaubertricks. Wenn wir diese Wundergeschichten lesen, ist das für viele kein Grund zum Glauben, sondern Grund für kritische Fragen und Zweifel. Wir suchen nach einer natürlichen Ursache, um die Dinge in unserem Denksystem einzuordnen. Denn unsere Gedankenwelt ist nicht mehr die gleiche wie vor 2000 Jahren. Und so haben Wundergeschichten für uns aufgeklärte Menschen etwas Anstössiges.
Alltagserwartung gesprengt
«Selig ist, wer sich nicht an mir ärgert», sagt Jesus. Ich denke mir: Gar nicht so einfach, wenn die Wundergeschichten, die erzählt werden, wie aus der Zeit gefallen wirken. Mit Jesu Reden, mit seinen Gleichnissen, mit der Art, wie er mit den Menschen zu seiner Zeit umgegangen ist – mit all dem kann ich etwas anfangen. Aber die Wunder sind doch nicht mehr zu glauben! Ein Glaube ohne Wunder wäre zeitgemässer, geht es mir durch den Kopf.
Aber geht das – ein Glaube ohne Wunder? Muss ich nicht mit einem Gott rechnen, der grösser ist als das, was ich für möglich halte? Anders formuliert: Ist Gott nicht immer noch da zu finden, wo ich mich wundere? Wo ich erstaunt feststelle, dass in meinem Leben Alltagserwartungen gesprengt werden. Durch unvorhergesehene Zuwendung anderer Menschen. Durch Glückserfahrungen, die ich nicht für möglich gehalten habe. Dort, wo ich mit offenem Blick auf die Welt schaue und sehe, wie wundervoll alles eingerichtet ist. Kann nicht auch noch heute das gläubige Herz in solchen Alltagsdingen Gottes Gegenwart in unserer Welt erkennen? Sind das nicht Wunder?
Text: Esther Marchlewitz, Pfarrerin, Rorschach – Kirchenbote SG, Mai 2021
Glauben ohne Wunder