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Fokus Kirchenmusik

Alte Musik: «Wir sollten sie nicht unterschätzen»

von Stefan Degen
min
12.05.2025
Als Sopranistin steht Gudrun Sidonie Otto auf den grossen Konzert- und Opernbühnen. Und als Pfarrerin bricht sie eine Lanze für traditionelle Choräle. «Es ist eine Art Dreifaltigkeit», sagt sie. «Es braucht die Musik und das Wort, damit Transzendenz stattfinden kann.»

Gudrun Sidonie Otto blickt auf eine erfolgreiche Karriere als Sängerin zurück. Die Liste der Dirigenten, mit denen sie zusammenarbeitet, liest sich wie ein Who’s who der klassischen Konzertszene. Neben ihrer Solistenkarriere studierte sie Theologie und wirkt heute als Pfarrerin in der reformierten Kirchgemeinde Binningen-Bottmingen BL. Dabei setzt sich die 45-jährige Mutter zweier Töchter vehement für hochwertige Musik im Gottesdienst ein.

Besonders schätzt sie die alten ehrwürdigen Choräle, wie sie im evangelisch-reformierten Gesangbuch oft anzutreffen sind. «Diese bergen textlich wie melodisch eine Tiefe. Sie sind niemals oberflächlich und beliebig», erläutert sie. «Sie haben sich über Jahrhunderte bewährt, und wenn man sich mit ihnen auseinandersetzt, können sie spannend sein, auch rhythmisch.» Die Texte seien für heutige Ohren manchmal sperrig, aber das rege zum Nachdenken und Fragen an.

Durch Bach-Kantaten zum Glauben

Sie selbst, sagt Otto, sei durch die Musik zum Glauben gekommen. «Ich war früher Atheistin. Bei Alter Musik, zum Beispiel bei Bach-Kantaten, habe ich mich als Jugendliche gefragt, was diese geheimnisvollen Texte wohl bedeuten.» So habe sie begonnen, sich mit dem christlichen Glauben auseinanderzusetzen.

Choräle sind nicht per se altbacken, wohl aber unser Zugang und unser Umgang damit.

Bloss: Spricht solch Alte Musik auch junge Menschen an? «Auf jeden Fall», ist Otto überzeugt. «Kinder und Jugendliche unterscheiden nicht unbedingt, ob Musik alt oder neu ist – wenn sie nur lebendig und mitreissend dargeboten wird. Choräle sind nicht per se altbacken, wohl aber unser Zugang und unser Umgang damit.» Wie zum Beweis schiebt sie nach: «Ich habe die Jugendlichen Lieder für die Konfirmation auswählen lassen. Und sie haben sich ‹Grosser Gott, wir loben dich› und ‹Meine Hoffnung und meine Freude› ausgesucht.»

Auch Junge mögen Alte Musik

Szenenwechsel. Pfarrerin Gudrun Sidonie Otto führt am Sonntagmorgen durch den Gottesdienst in Binningen. Thema: «Affentanz ums Goldene Kalb». Rund hundert Menschen haben sich in der Kirche der Basler Vorortsgemeinde eingefunden. Es ist ein Gottesdienst, der alle Sinne anspricht. Dass dabei Alte Musik vertont wird, scheint auch die Jungen nicht zu stören. Die Gemeinde singt «O Haupt voll Blut und Wunden» und «Wohl denen, die da wandeln» – Musik des 17. Jahrhunderts. Entscheidend sei, sagt Otto hinterher, dass Musik und Wort im Gottesdienst eine Einheit bildeten und dass Lieder angeleitet und ansprechend begleitet würden. «Dann unterscheiden die Leute gar nicht zwischen alten und neuen Liedern, sondern sie gehen im Gesamtkunstwerk des Gottesdienstes auf.»

Bei guten Liedern gebe es immer eine sinnstiftende Entsprechung zwischen Rhythmus, Tonart, Melodie und Text, so Otto: «Das war früher jedem klar, der das hörte.» Es gebe auch tolle Popmusik und Schlager, etwa von Udo Jürgens. «Seine letzten Songs, die Arrangements, Harmonisierungen und Texte, das ist grosse Kunst.»

Letztlich gehe es nicht um das Musikgenre, sondern allein um Qualität. «Für den Gottesdienst ist das Beste gerade gut genug, egal ob klassisch oder modern, ob Tango oder Hildegard von Bingen.» Gute Musik habe eine Notwendigkeit, eine spirituelle Dimension. «Wir sollten auf keinen Fall den Fehler machen, unsere Klientel zu unterschätzen. Oder würde Ihnen harmonisch-rhythmisches Einerlei auf Dauer als Seelennahrung reichen?»

 

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